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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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und ich aus einer Art «Bockigkeit» heraus nicht die sich anbietenden hurtigen Fragen stellte.
    Damit mag das Gespräch der «Vergessenheit» des Autors auf makabre Weise entsprechen: Der Stenograph erzählte mir: «In Hamburgs Thalia-Buchhandlung wußte niemand auch nur den Namen Solschenizyn», und er selber berichtete, daß sein Italien-Verleger Mondadori die Publikation des «Rote Rad»-Zyklus abgebrochen habe. Sic transit.
    21. Oktober
    Lesung in Schwerin. Interessant die andere «Haltung zum Buch» der Ossis: Sie nehmen das anders in die Hand, es ist auf seltsame Weise weniger Ware (und sie zögern entsetzt bei dem Preis: «Da muß ich erst mal meinen Mann fragen»), sie blättern und prüfen und lesen etwas drin rum – und kaufen dann, immer noch gegen die Preisschranke ankämpfend, sozusagen «freundlich» das Ding in die Hand nehmend.
    Wie sie ohnehin nach wie vor oder sogar schärfer denn je sich vom «Westen» abgrenzen; inzwischen ist ihnen jeder Mercedes zum Kotzen (außer dem, den sie selber fahren) und jeder BMWfahrer ein Brutalo-Rabauke, und sie feiern sich als die, «die eben nur Trabis hatten, da gab es diese Karossenprotzerei nicht». Wobei sie vergessen, daß die meisten nicht mal nen Trabi hatten, vielmehr 15 Jahre darauf warten mußten. Vor allem aber vergessen sie, daß sie zwar – vielleicht – «ein einig Volk von Trabi-Brüdern» waren – – – aber ebenso ein einig Volk von Stasi-Brüdern; jedenfalls Hunderttausende von ihnen. Und die, die jetzt streiken, weil sie ihre Braunkohle weiter verarbeiten wollen – egal, ob die jemand will, kauft und brauchen kann –, haben DAGEGEN nicht gestreikt. Haben ÜBERHAUPT NICHT GESTREIKT, egal wogegen – auch nicht, wenn der Nachbar verschwand oder die eigne Tochter nicht studieren durfte.
    31. Oktober
    Das mache auch wohl nur ich: gestern früh ab Nizza, mittags in Hamburg gelandet, nachmittags mit dem Auto nach Lübeck, wo ich ab 13 Uhr eine «literarische Nacht» in der Petri-Kirche leitete, mit Lesungen, Podiumsdiskussion, scenischen Veranstaltungen. Das Verrückte, immer wieder, an solchen Sachen ist, daß so viele Menschen zu derlei hingehen – – – aber doch offensichtlich NICHTS verstehen. Manchmal nicht mal akustisch, weil z. B. der arme Karl Mickel in der Sakristei Gedichte lesen mußte, während im Kirchenschiff ohrenbetäubend «lustige» Musik spielte. Intellektuell aber gewiß nicht – wenn Delius einen Text liest, der sich auf Fontanes «Herr Ribbeck im Havelland»-Ballade bezieht, raunt es hinter mir: «Da waren wir doch auch mal, doch, das kennen wir.» Dieses angeblich literaturinteressierte Publikum ist eigentlich hassenswert, sie sind amüsiersüchtig und in Schablonen (in diesem Fall vom «Dichter») lebend wie jener junge Mann heute mittag (als ich im Maritim-Hotel in Travemünde schwimmen war), der aus seinem Wagen stieg und sagte: «Ach, herrlich, die gute Meeresluft.» Sie denken, fühlen, bewegen sich NUR in den Klischees, die ihnen von Illustrierten oder vom TV vorgestanzt werden (weswegen z. B. an jedem Swimming-Pool der Welt so viele «Drinks genommen» werden – das haben sie irgendwo gesehen, das ist die große Welt).
    Wenn sie wüßten, wie sehr Schriftsteller sie verachten, die doch alle NUR des Honorars wegen durch diese ewigen Reifen springen – am unverhohlensten noch sagte ihnen gestern nacht das Kunert ins Gesicht, der auch den einzigen wirklich literarischen Text las – wenn er auch possierlich wirkt unter der Regie seiner enormen Juno, mehr und mehr einem Seehund ähnlich, aber dressiert. Während Mickel vorführt, daß es eben DOCH so etwas wie ein «Ostgesicht» gibt – eine unheimliche Mischung aus verschlagen, verkniffen, listig, feige, geduckt, beflissen. Ich mochte ja seine frühen Gedichte sehr (verlegte sie bei Rowohlt, die, die damals in der DDR nicht gedruckt werden durften) – täusche ich mich, wenn ich mich an einen schönen, klaren Kopf erinnere?
    4. November
    Ach Gottchen, die Welt der Schreiber … Anruf heute morgen (ganz früh) Joachim Kaiser. Also, das sei nun mein bester Artikel (was man ja nie gerne hört, weil dann all die anderen minder gut waren/sind), einfach großartig, das mache mir keiner nach. Ich dachte, er spricht von Baudelaire – nein, er meinte die GenetREZENSION, also doch eigentlich garkein «Aufsatz». Und es gäbe einfach in ganz Deutschland allenfalls vier Leute, die derlei könnten – er (als erster genannt), Habermas, Joachim Fest und FJR.
    Eine

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