Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
junge Kurt Drawert war auch entsprechend empört. Während Muschg irgendwas von Gnade und Grazie faselte, erzählte er von der DDR-Realität, den Stasi-Honoraren für Schedlinski, den Landhäusern und Autos und Honecker-Privat-Nummern der Christa Wolf. Der Mann wußte, wovon er redete: hatte Pep.
Das/Der war Lichtblick, das einzig Lohnende dieser vertanen 2 Lebenstage im Hotel mit Schuhputzmaschine neben dem Lift, Bonbon auf dem Kopfkissen und Fußpilz-Spannteppich. Das Schlimmste die Geiselnehmerei der Kulturbeamten-Veranstalter, die nicht nur erst nach der Veranstaltung, sondern auch erst nach dem anschließenden «Umtrunk beim kleinen Italiener» (statt bei Nürnberger Bratwurst und Frankenwein) löhnen. Man sitzt, hört deren Quatsch an, trinkt Pinot Grigio und ißt scheußliche Calamares – und wartet auf sein Geld. Schmählich.
Wie höflich, dachte ich nächsten Morgen, als früh das Telefon klingelte und der Herr Muschg sich bedankte und verabschiedete; es war aber nicht Höflichkeit – er stand ratlos am Hotel-Desk, wo man angeblich von nichts wußte, daß die Veranstalter sein (unsere) Zimmer zahlten, und wollte nun meinen Rat, «ob wir etwa unsere Zimmer selber bezahlen müssen». Oh, du meine Schweiz.
Eine lustige Beobachtung zu mir: Ich löse alle Redensarten in corpore ein. Man muß «Kreide fressen», um sein Cholesterin niedrig zu halten – ich fresse aber keine Kreide, auch nicht im übertragenen Sinne; und habe prompt zu hohe Cholesterin-Werte. Mein Sylter Masseur erklärt mir, daß ich so unter Spannung stünde, daß seine Finger geradezu elektrisiert würden, wenn er auch nur eine Fußreflexzonenmassage mache; man nenne das «überspannt». Von «dünner Haut» (die ich mir bereits beim Briefeöffnen aufschneide) bis zum «Durchbeißen» (wogegen ich Attrappe nun nachts eine «Knirsch-Schiene» an den Zähnen trage): Alles, was man sonst nur im übertragenen Sinne benutzt, gilt bei mir garnicht «übertragen».
Gestern nachmittag ruft Rudolf Augstein an, total betrunken, sinnlos stammelnd, ob ich noch mit Gabriele Henkel befreundet sei, die gebe doch ein Essen für Henry Kissinger, und er wolle da absagen, aber was er denn mit seiner Begleitung tun solle, man sei ja gut erzogen (???!?) und müsse doch die Begleitung angeben, zumal er absage.
Selbst meinen Witz, ob er denn nun die «Begleitung» alleine hinschicken wolle oder ob ich den Anruf so verstehen dürfe, daß ICH seine «Begleitung» sein solle, verstand er nicht mehr. Wie oft Betrunkene wurde er ganz steif-förmlich-höflich und bedankte sich für das Gespräch, als habe er Kissinger INTERVIEWT.
Kampen, den 3. September
62. Geburtstag – un-bemerkenswert.
Der Ort, an/in dem ich wohne: alleine –.
1. Oktober
«Es gibt keine andere Quelle der Schönheit als die Verletzung – einzigartig, verschieden bei jedem einzelnen, versteckt oder sichtbar –, die jeder Mensch in sich trägt, die er sich bewahrt und in die er sich zurückzieht, wenn er sich von der Welt in eine vorübergehende, doch tiefe Einsamkeit abwenden will.»
Ein Genet-Zitat aus der (vorzüglichen) Edmund-White-Genet-Biographie, die ich soeben beendet habe.
Hotel Vier Jahreszeiten Kempinski, München, den 8. Oktober
Für 1 Tag also hierher, um Solschenizyn zu interviewen. Böser Nerven-Crack zuvor: Im Zug zerbrach meine Brille. Plötzlich blind, plötzlich nicht mehr lesen, plötzlich sogar Schwindelgefühl, eine Art Balance-Verlust. Statt ruhigem Room-Service-Abend mit Vorbereitungslektüre nervöser Cigaretten-Abend im Restaurant mit der notdürftig vom Hotel-Techniker geflickten Brille. Kaum geschlafen.
Was ungerecht ist – denn unter besseren Bedingungen kann kein Mensch Interviews führen: Hotel-Limousine, Konferenzsuite, Dolmetscher, Stenograph; ich konnte mich ohne jede Technik-Irritation ganz aufs Gespräch konzentrieren.
Das wider Erwarten sympathisch verlief. Er ist kein Taschen-Tolstoi, durchaus ein eigener – auch listiger; nahm Geld fürs Interview – Kopf voll störrischer Altmodischheit, der den «Entwurf der Moderne» ablehnt und ohne Selbstgefälligkeit, aber voller Selbstbewußtsein auf angeblich verbrauchten Begriffen wie Seele, Verantwortung, Mission, Glaube besteht.
Wenn das Gespräch eindimensional blieb (gar nur einen einzigen Gedanken variiert), dann liegt das an mir, weil ich die «Was halten Sie von Gorbatschow?»-Masche nicht mag. Mag sein, daß mein zunehmender Degout allem Journalismus gegenüber mir die Ganglien «führte»
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