Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Hauptdarsteller Claude Lanzmann, Bernard-Henri Lévy und der DÉBATS-Chef Nora (der einzige, den ich kannte) – gemütlich frühstückten. Was ich dann auch tat.
Im strömenden Regen zu Fuß – security reasons – zu Minibussen. Voll Techniker. Für uns kaum Platz. Krimihaft fuhr ein Wagen uns voraus. Angeblich wußte unser Fahrer nicht, wohin wir überhaupt führen. Statt daß, wie wir alle annahmen, die Fahrt stundenlang in entlegene Gegenden ging, waren wir in wenigen Minuten am Ziele – eben diesem Club – angekommen. Wo wir von 9 Uhr morgens bis 14 Uhr herumlungerten, eingesperrte Clowns vor dem Auftritt, noch ohne Schminke. (Geschminkt wurde übrigens nur Lévy.)
Eine Unverschämtheit wie eine Farce. Keiner von uns vieren mochte eigentlich mit dem anderen sprechen, die Franzosen «nahmen mich nicht an» (ich legte mich auf eine Ledercouch und schlief), machten Small-talk und lasen, wichtig, wichtig, mit Bleistiftanstrichen in den SATANISCHEN VERSEN (vermutlich zum 1. Mal). Es gab aus Pappbechern miesen Tee und kalten Kaffee, nach Stunden die schlimmsten «Sandwichs» meines Lebens – ansonsten tigerte man Stunden um Stunden in der riesigen Bibliothek, drei große verbundene Räume, umher, rauchte, schwieg, belauerte sich. Nicht nur mischte ich als der einzige Nichtfranzose mich nicht mit den anderen – wie tief ist doch der Rhein nach wie vor –, sie wollten auch nicht viel miteinander zu tun haben, sie warteten auf «ihren Auftritt»; das kennt man ja von jeder TV-Sendung und den Minuten davor – aber doch nicht STUNDEN. Andererseits war man auch so «eingeklinkt» in die Angelegenheit, daß man nicht einfach weggehen mochte, noch mal ins Museum z. B. oder zu einem schönen Imbiß ins Ritz. (Schrecklich übrigens auch die Marginalie, die keine Marginalie ist: Einer brachte eine Zeitung, und front-page-news war – mit Foto – der Überfall in Halle auf eine Behinderte, der Neonazis ein Hakenkreuz in die Wange geschnitten haben!!!) Wie verhält man sich da «als Deutscher»? Alle sahen die Zeitung an und – schwiegen. Tödliche Diskretion. Dann nahm ich die Zeitung, ging zu Lévy und sagte: «Haben Sie das gesehen? Was für ein Land.» Dazu kam: «Oui.» Keine Silbe mehr.
Als um 14 Uhr der von seinen Geheimdienstlern wie von Dienstboten umgebene Star eintraf, waren wir verschwitzt, überraucht, übernervös und müde, voller Rückenschmerzen vom Sitzen auf unbequemen Clubsesseln. Nun begann der – übliche – Kampf vor der/um die Kamera. Nicht von Rushdie, der war ja der Mittelpunkt, aber der anderen – wer sagt zuerst was, wieviel, wie lange, wie oft, wer unterbricht, Gott behüte (ich z. B. gegen seinen Protest Claude Lanzmann; als säßen wir in der Schule). Dazu die Mischung aus Handicap und Anspruchshaltung: Obwohl man mir auf mehreren Vor-Erkundigungen gesagt hatte, das Gespräch finde auf Englisch statt, bestanden die (des Englischen nur mäßig kundigen) Franzosen darauf, ihre Fragen auf französisch zu stellen. Nun platzte mir der Kragen – und ich bestand meinerseits auf Englisch, jedenfalls für MEINEN Teil des Gesprächs. Das Ergebnis: Ich konnte mich mit Rushdie rasch, genau und problemlos verständigen, während sie oft nichts oder nur die Hälfte verstanden und ich etwa «oral history» übersetzen mußte.
Die der Levantiner Rushdie z. B. als literarische Struktur seines Romans für sich in Anspruch nahm. Er war zwar ohne Frage der Überragende und auch auf kraftvollere Weise Intelligentere als z. B. diese Salon-Pariser (die vorher noch abschätzig über sein Buch gesprochen hatten, das sie nun «un vrai roman, un grand œuvre de la littérature mondiale» nannten und die über ihn gespöttelt hatten, er sei längst eine Interview-Schallplatte, eine Antwortmaschine); aber er hat auch etwas Verschlagenes, so eine Schlangenbeschwörereleganz wie diese Leute auf indischen Marktplätzen, eine Mischung aus schlau (Vorbilder UNTER Joyce wurden nicht mehr zugelassen, Grass – auf den er sich früher bezog – überhört) und verschlagen. Manchmal wirkt der Mann mehr wie ein Rikscha-Fahrer als wie ein oral-history- Märchenerzähler: Man weiß nicht, wo man mit ihm landet. So war auch sein «Ich freue mich, einem so berühmten Mann zu begegnen», mit dem er mir sein Buch widmete, zu oberkellnerhaft, zu deutlich verlogen-höflich. Auf mein «You are very polite but not saying the truth» umarmte er mich opernhaft. So groß, wie er denkt, daß er sei, ist er, glaube ich, nicht. Gegen
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