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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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verzieratet und kostbar macht, selbst in seinem Wutausbruch gegen Biermann – «Ich hasse den, ich glaube, ich könnte ihn (er-)schlagen» – war noch etwas Rokoko-Kokettes, eben nicht die Brachial-Wut von Hrdlicka.
    So hielt ich mich an Grass, mit dem der Abend sehr angenehm war, der auch mal von MEINER Arbeit sprach (gerade DIE NACHGEBORENEN gelesen hatte – am liebsten allerdings das Kapitel über IHN) – wobei meine Prosaarbeiten nie, mit keiner Silbe erwähnt werden; das ist so, als habe ein junger Hund einen See auf den Teppich gemacht. Prosa darf nur EINER schreiben – wer wohl. Auch Bissinger war angenehm, still, bedrückt – was ihm gut steht, nicht so bramsig, wie er sich sonst gerne gibt (und erstaunlicherweise kam heute sogar ein lettre au château ; typisch: nur von ihm).
    9. Januar
    Wie nennt man «aftermath» auf Deutsch? Schlechter Geschmack im Mund?
    Den habe ich nun doppelt nach der Silvesternacht: Am Wochenende erschien in der SZ ein Gespräch mit Grass (das ohnehin banal), in dem er u. a. mich – neben Walser, Botho Strauß – als «rechtsgebeugten» Autor denunziert, der inzwischen die Idee von der Verantwortung des Schriftstellers leugne.
    Als sei es nicht DIESE Idee, die sich wie ein roter Faden durch ALLE meine Arbeiten zöge, als sei es nicht DIESE Idee, derentwegen ich mich auch gegen die Stasiverstrickungen der Wolf und Müller bäumte (ob «Freund» Grass das mit rechtsgebeugt meinte?).
    Wie kann man eine lange Nacht hier mein Gast sein, freundschaftlich (jetzt muß ich sagen: pseudofreundschaftlich) reden, essen, trinken, sich um Mitternacht umarmen – und den ganzen Abend wissen: In München rollen schon die Rotationsmaschinen, um die Beschimpfung aufs Papier zu drucken.
    Es ist inhaltlich absurd und vom Gestus her ekelhaft.
    10. Januar
    Enttäuschende/enttäuschte Lektüre der Fontane-Tagebücher (London 1852 respektive 1855 – 1858). Zum einen halten sie durchaus nicht das «Versprechen», man erführe so viel über das viktorianische England: Außer allerlei Diners und Déjeuners mit irgendwelchen Diplomaten oder höheren Beamten erfährt man reinweg GAR NICHTS; es ergibt sich weder ein Bild der Gesellschaft noch ein biographisches Bild mit dem ewigen Eintrag «An Emilie geschrieben» oder «Brief von Emilie».
    Die Eintragungen sind ohne Dimension:
    23. März 1858
    Gearbeitet. Mit George in die Stadt. Gesandtschaft, Farrence, National-Galerie. Nach Haus. Gearbeitet. Zu Beta’s (sein Geburtstag). Geplaudert bei Rotwein und Sandtorte.
    So geht das seitenlang, man weiß gar nicht, WOZU er überhaupt so ein Tagebuch führt, WOZU selbst – das in seiner preußischen Disziplin gar recht beeindruckend – unentwegt «gearbeitet» eingetragen wird (Seite 313, 9. März bis 13. März z. B., beginnt jeder Eintrag mit diesem Wort). Aber «gearbeitet» ist doch für unsereins selbstverständlich? Was sonst tut man denn jeden Tag (mit wenigen, sehr wenigen Ausnahmen)? Dann müßte ich ja JEDEN Tag, jede Notiz meines Tagebuchs mit dieser Selbstverständlichkeit beginnen?
    Nur sehr gelegentlich etwas «Inhaltliches», so etwa eine wunderbare Shakespeare-Betrachtung, in der er – bis heute gültig, etwa Zadek ins Stammbuch geschrieben – den Unrat und das Ungebärdig/Schrundig/Schmutzige an Shakespeare hervorhebt und die unzulässige Glättung durch ALLE deutschen Shakespeare-Adaptionen/Inszenierungen. Dabei denkt man an Peter Steins albernen Vorwurf gegen Zadeks Arbeit: «Shakespeare in Unterhosen». Selbst die müßte man ihm noch ausziehen, um den wahren Shakespeare zu haben.
    Verblüffend auch, daß EIN Name nicht einmal, nicht ein einziges Mal fällt: Karl Marx. Immerhin lebte der seit 1850 (?) in London. Aber Fontane hat ihn nie je gesehen, nicht besucht; er ist ihm offenbar nicht mal ein Gerücht.
    Weiter 10. Januar
    Noch einmal Fontane. Wobei bereits dies in den Kontext gehört: Ich lese ja so «liederlich» den ganzen Tag nur herum, weil ich alle 2 Stunden zu einer Augendruckmessung muß, Star-Verdacht. Nur käme ich eben nicht auf die Idee, in mein Tagebuch «unwohl» oder «kränklich» einzutragen, ohne z. B. die eigenen Ängste einzudenken; in diesem Fall vor dem Blindwerden. Seit ich diese Augenprobleme habe, kann ich kaum schlafen, träume angstvoll und rauche tagsüber zuviel: Was würde aus meinem Leben, wenn die Augen versagen? Nicht nur die Idee, nie mehr ein Bild, eine Skulptur sehen zu können, verfolgt mich, sondern auch die Panik, nicht mehr arbeiten zu können.

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