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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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interessante Derain-Ausstellung, die schönere mit Klimt und Schiele im Marmottan – die laszive Eleganz dekorativer Morbidezza lockt/verlockt mich sehr – oder heute die Voltaire-Ausstellung im Musée Monnaie (sehr angebracht bei dem extrem reichen Voltaire!) – alles ein großer Genuß. Aber.
    ABER doch alles Augenreize. Immer, Tag für Tag, Abend für Abend, könnte ich das nicht.
    Nach soviel Soufflé freue ich mich auf Bratkartoffeln; will sagen: Nach soviel Außensteuerung freue ich mich auf meine Arbeit.

    Lieber Heinrich Senfft –

    wider alle Vernunft (und Arbeitsökonomie) schreibe ich Ihnen einen langen Brief zu Ihren freundlich-ermahnend gemeinten Weihnachtszeilen (übrigens hoffend, daß mein kleiner Gruß Sie trotz bella Italia erreicht hat) … Mir scheint, Sie und einige andere, wie zum Beispiel Freund Gaus – sehen vieles falsch und biegen sich etwas zurecht: eine DDR, die es so nicht gab. Schon bei Gaus finde ich das lustig bis befremdlich, wie jemand, der nicht die geringste Ahnung von Marxismus, Sozialismus usw. hatte, als er nach Ostberlin ging, sich in einer Art Schnellkochkurs infizierte. Mag sein, Sie kennen ihn länger – ich kenne ihn immerhin seit ca. 30 Jahren und kann BEZEUGEN: Weder in seiner Rundfunkzeit noch in seiner SPIEGELzeit hat er sich je mit den Problemen beschäftigt, die ich bereits damals, als sehr junger Mann, durchlebt und durchdacht hatte.
    Ich fürchte, das ist bei Ihnen nicht anders.
    Wo waren Sie denn, als ich als junger Mann von 18 Jahren beschloß, die Adenauer-Globke-Bundesrepublik zu verlassen und in die DDR zu übersiedeln? Da machtet Ihr doch alle hierzulande feine bürgerliche Karrieren – und setztet Euch keineswegs, auch nicht das geringste bißchen, mit dem auseinander, was dort geschah beziehungsweise auch eben nicht geschah. Ich fühlte mich «zunehmend unsicher», wenn ich «in den Osten des Landes gehe»? Lieber Heinrich Senfft – ich BIN ja dorthin gegangen, ich habe dort einen Verlag aufgebaut, ich habe – damals schon, nicht jetzt, auf schicken Parties, mich mit den Re-Migranten, mit Heym oder Hermlin oder Seghers oder Kantorowicz oder Bloch oder, oder … gestritten, mit ihnen auch gearbeitet und war mit ihnen verzagt. Ich kenne zahllose Schicksale, die ich aufschreiben könnte – und vielleicht eines Tages aufschreiben WERDE («leider» Juden – das war nämlich keineswegs sehr beliebt). Verzweifelte. Es ist nicht überheblich, sondern hängt mit meiner Biographie – allerdings auch der intellektuellen – zusammen, wenn ich Ihnen sage: Ich WEISS, wie es da war, ich habe es mir nicht erst in den 70er oder 80er Jahren per Nischentheorie zurechtgelegt. Ich habe dort gekämpft, manche Jahre lang, für ein anderes Deutschland, und mußte denn doch (allmählich) wach werden, wenn ich zu den Brecht-Premieren im (damals noch) Deutschen Theater vorübergehen mußte an einem Zuchthaus, dessen Fenster – es war ein alter Bunker – mit Brettern vernagelt waren; dahinter saßen keine Kriegsverbrecher, sondern meist Kommunisten wie Leo Bauer, bevor sie nach Sibirien verschwanden – und alle Hermlins der DDR fuhren schweigend in ihren Autos zur Premiere daran vorbei und hinterher zur Feier in die «Möwe».
    «Die Wahrheit ist konkret». Ich gebe Ihnen EIN – eines von vielen möglichen – Beispiel für die Vertracktheit des Problems, für die Zerstörung, die man dort mit/in Menschen anrichtete – und für meinen Dennoch-Respekt vor den meisten von ihnen (nicht vor Hermann Kant, der ist ein Würstchen). Es muß doch wohl damit zusammenhängen, mit diesem Respekt, daß ich, WÄHREND ich widerspreche, mit all denen weiter im Diskurs bin, daß Heym eben MIR damals das große Interview gab, dem «im Osten Unsicheren», und daß ich jetzt – seit Jahren ihm schärfstens widersprechend – mit Hermlin zu einem großen ZEITgespräch verabredet bin. Die sprächen nicht mit mir, wenn sie mich für so dumm/naiv hielten, wie Sie mich karikieren. Es hätten auch nicht Amado und nicht Semprún und nicht Brodsky und nicht Solschenizyn (to name a few) mit mir so ernsthaft gesprochen, wenn diese Leute nicht meinen Ernst spürten und nicht wüßten, daß ich da etwas betreibe, was man moralisch-politische Ethnologie nennen könnte.
    Das EINE Beispiel:
    Ich war 19, als ich in die DDR zog; mäusearm (ohne berühmten und gut verdienenden Stiefvater; übrigens auch – da «bürgerlicher Herkunft» – ohne Stipendium). So arbeitete ich vom ersten Semester an –

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