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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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eben bei Volk und Welt; zum Schluß als stellvertretender Cheflektor. Der Verlagschef war ein Berliner Jude, den sie am Potsdamer Platz halb totgeschlagen hatten, bevor ihm – allerletzte Chance, weil man dorthin ohne Visum kam – die Flucht nach Shanghai gelang. Die Cheflektorin war eine Wiener Jüdin – ebenfalls in Shanghai «überwintert». Ich war mit beiden – sie waren Kommunisten in den 20er Jahren gewesen und jetzt selbstverständlich hochrangige SED-Genossen – eng befreundet. Sie liebten meinen Elan, mein Temperament und meinen Arbeitseinsatz – und ich konnte nicht genug hören, erfahren, lernen. Ich liebte sie AUCH wegen ihrer Vita. Falls Sie eines meiner Bücher gelesen haben, lieber Heinrich Senfft, dann werden Sie sich an eine Narbe erinnern; die habe ich «gestohlen» jenem Mann; ich sah sie einst, als wir mal zusammen am Müggelsee schwimmen waren, ein dicker Wurm, von der Leiste bis zum Hals. NIE werde ich diese Narbe vergessen – und, wer sie dem Manne zugefügt (gerne wüßte ich, ob Sie oder Gaus vergleichbare EXISTENTIELLE Erfahrung berichten können etwa aus dem Jahre 1952). Und WÄHREND wir befreundet waren, entfernten wir uns voneinander, politisch. Ich sah mehr und mehr diese Zuchthäuser, wurde mehr und mehr gequält von verbotenen Büchern, zensierten Filmen, einem nach Sibirien verschleppten Horst Bienek (AUS Brechts Theater heraus – der Meister sah weg), einer untersagten Hanns-Eisler-Oper und einem aus der Wand des Bahnhofs Friedrich-Straße herausgemeißelten Bild. Mein Stiefvater war kein eleganter Literaturkritiker – mein Pflegevater war ein zerquälter Geistlicher, er war, lieber Heinrich Senfft, der (einzige) Haftanstaltspfarrer der DDR – von insgesamt sieben Anstalten. Ich weiß besser als IRGENDEIN Mensch auf dieser Welt, wie es da aussah.
    Warum ich die Geschichte erzähle? Weil sie SO nicht zu Ende ist. Ich blieb nämlich, im Streit, in emphatischen, schließlich (von Paul Merker geleiteten, verhörähnlichen) Diskussionen, mit diesem Mann befreundet. Ich steckte ihm heimlich, per Hauspost, Koestlers DARKNESS AT NOON zu, und ich begriff, als er es mir auf dem Klo mit den Worten zusteckte: «Das Buch habe ich nie gelesen.» Derweil er etwa eine heimliche Schweizreise von mir, die ich selber bezahlte, deckte – weil ich unbedingt Steinbecks FRÜCHTE DES ZORNS in Lizenz nehmen wollte; und derweil er duldete, daß ich Faulkner zum Vorkämpfer der Neger in den USA umfrisierte, um ihn verlegen zu können. (Faulkner HASSTE bekanntlich Neger.) Und dieser Mann, als ich störrischer und störrischer wurde, als immer mehr verboten (Tucholsky, DEUTSCHLAND, DEUTSCHLAND) und verhaftet wurde und ein Brecht log, daß sich die Balken bogen, sagte zu mir: «Fritzchen, mein Sohn, wenn ich je spüren sollte, daß du abhauen willst – dann lasse ich dich vorher verhaften.» Und ich BLIEB mit ihm befreundet – ich konnte die Narbe nicht vergessen und die Wüste Shanghai; das hatten WIR ihm angetan. Und ALS sie mich verhafteten, im Verlag, durfte ich mich von ihm verabschieden (die Herren im grauen Ledermantel mit der pistolendicken Hüfte waren ja dumm; ich hätte über die Feuertreppe türmen können), sagte er mir: «Sei dumm wie die Schlange» – und schob mir ein Päckchen chinesische Cigaretten (damals das Funktionärfeinste) hin. Und ich habe den Mann verstanden, die schreckliche Verwüstung, die man mit/in ihm angerichtet hat; und ich blieb mit ihm befreundet; und ich schrieb ihm – als ich rauskam und dann doch «türmte», mit 70 Mark in der Tasche, einen Abschiedsbrief, wie ihn sich eigentlich Liebende schreiben (ich erspare mir und Ihnen, eine Kopie dieses Briefes beizulegen; aber ich glaube nicht, daß einer von Euch so früh und so genau und so, Pardon, herzzerreißend sich seiner Zeit ausgesetzt hat).
    Das war die Zeit, zu der Enzensberger (ich war gerade in der «Freiheit» gelandet), als ich ihm seine Idee, Lawrence Durrell den Nobelpreis zu verleihen, mit dem Hinweis auf diesen «Imperialistenkitsch» beantwortete, mir sagte: «Sie sind eben marxistisch verseucht»; zu der mir ein junger Assistent von Adorno namens Habermas, als ich ihn – ich war Kindler-Chef – fragte, ob er eine Marx-Ausgabe edieren würde (es gab NICHT EINE Zeile von Karl Marx im Jahre 1959 in der BRD!), sagte: «Sie müssen ein mutiger Mann sein», und es war ein wenig später die Zeit, zu der mir der Herr Walser zu meiner dreibändigen Anthologie «Marxismus und Literatur» schrieb: «Ich

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