Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
habe keinen dieser Namen je gehört.» Ihr hieltet doch alle den Namen Shdanow für eine Vodka-Marke und den von Trotzki für den der Lipizzaner? Was tat denn Gaus, als ich die ersten Vorlesungen über DDR-Literatur an der Uni Hannover hielt und in der Springerpresse unbändig beschimpft wurde, deswegen? Und der Anwalt Senfft?
Daß Sie der Anwalt von Hermann Kant sind, ist gewiß OK. Sie sollten sich aber nicht zu seinem Fürsprecher machen. Die deutsche Scheidelinie (die ich nie mitmachte) verlief ja immer: «Ein Talent, doch kein Charakter» – das war dann Heine oder Brecht; beziehungsweise «Kein Talent, doch ein Charakter» – das war dann Raabe oder Siegfried Lenz. Doch GARKEINE Alternative scheint mir zu sein: «Kein Talent und kein Charakter.» Unbegabte Schriftsteller gibt’s viele, und SO unbegabt war Kant ja garnicht in allen Büchern (was ich ihm stets nobel bescheinigt habe, noch neulich). Aber er ist ein Lügner und Worte-Hehler, er hat über mich noch an seine – nun, nennen wir’s: Obrigkeit – berichtet, als ich schon bei Rowohlt war.
Gerade WEIL ich – oder obwohl ich? – mich wahrlich besser in all diesen Verwinklungen und Verwicklungen auskenne, weil ich aufs intimste Schicksale hochanständiger Versager «dort» kenne, respektiere ich auch die Verzweiflung und den Hohn der Schädlich, Sarah Kirsch und Günter Kunert. Die kommen bei IHNEN garnicht mehr vor? Wer hat denn – als ziemlich einziger – Position und Kandidatur von Heym ÖFFENTLICH verteidigt (und sich Waschkörbe von Wut-Leserbriefen zugezogen), allerdings ohne seinen/meinen Dissens mit dieser mir nicht mehr einsehbaren Parole vom «menschlichen Sozialismus» zu verbergen? Ich habe mir seit nunmehr mehr als zwei Jahrzehnten den Schädel eingerannt (und fast einschlagen lassen) für eine unabhängige integre Position, und es tut mir leid, wenn es arrogant klingt: Ich sehe ganz wenige, um nicht zu sagen, NIEMANDEN, der das mit dieser Verve, diesem Temperament und dieser «Gerechtigkeit» getan hätte. Verteidigt, als ich gejagt und erjagt wurde, bin ich von keinem von Euch allen worden; wenn ich mich recht erinnere, gab es von Gaus, der beim Diplomatenreiten durch den Tiergarten sein Herz für den Sozialismus entdeckt hat, nicht einmal einen Leserbrief an die ZEIT.
Sehr mehrheitsfähig war ich da, scheint mir, nicht.
Der Brief ist zu lang und zu aufdringlich. Nehmen Sie ihn nicht nur als datumgebundenen «Erguß», sondern doch auch als Beweis, daß ich mich – meinetwegen: zu Teilen – mit Ihnen befreundet wähne. Vielleicht ist er ja auch nur der eigenen Hygiene wegen geschrieben. Sie haben ja gewiß einen großen Papierkorb. Da soll dann auch getrost hin, was ich Ihnen hier beilege – für meinen Geschmack ein Beispiel für die «richtige», faire, aber nicht augenblinzelnde Erörterung all dessen, was Ihnen hier nun anvertraut hat mit den allerbesten Wünschen für ein erträgliches 1995,
Ihr
Fritz J. Raddatz
1995
5. Januar
So beginnt also das NEUE JAHR: Probleme beim Lesen (was ich wie eine Bedrohung empfinde), Schmerzen und, wie die erste Untersuchung gezeigt hat, kaum noch funktionierende Tränendrüsen, außerdem rechts ein bedenklich erhöhter Augendruck, was die Vorstufe vom grünen Star ist/sein kann. Netter Anfang …
Der eigentliche Jahresanfang war eher grotesk. Dieses Mal nicht alleine mit Gerd in Kampen, nicht zuletzt, weil das die letzten Male etwas bedrückend-auf-die-Uhr-sehend war und ER gesagt hat: «Laß uns nächstes Jahr was unternehmen.» So habe ich Grass und Rühmkorf (natürlich mit Frauen) eingeladen und, weil Ute Grass «intervenierte» (es gehe ihm so schlecht, berufliche Probleme), Bissinger. Nun hatte ich Rühmkorf eingeladen, BEVOR ich von Hochhuth seinen «Verrat» berichtet bekam, nämlich daß er den ZUGESAGTEN Bürgen-Brief für meine Aufnahme in die Berliner Akademie nicht geschrieben hat. So war ich jetzt ziemlich gegen ihn eingenommen, und alles ging mir auf die Nerven: daß er – zum Essen – eine Stunde zu spät kam mit den Worten: «Mitgebracht habe ich dir nichts» (während sogar der ansonsten gestenlose Grass mir einen schönen Band mit seinen graphischen Arbeiten, mit freundschaftlicher Widmung, mitgebracht hatte); daß er seine Kippen in die Gallé-Vase schmiß (er weiß natürlich nicht, was das ist) und daß er dreimal das gegen Morgen mühsam bestellte Taxi einfach nicht nahm: «Ach, ich bleibe doch noch ein Stündchen.» Ich fand/finde, daß er sich mächtig
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