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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Mitbesitzer ich mal war» einflicht, oder in einem Nachruf auf Horst Janssen, von dem er viele Kärtchen bekommen habe (als gäbe es irgend jemanden in Hamburg, der sich hätte retten können vor diesen scheußlichen Schmierkärtchen): Er ist, was Tucholsky den «dabey-gewesen-Bey» nannte. Auch mit Bucerius – der sich vor ihm schüttelte: «Der Mann, der gegen mich prozessiert hat» – war er per Nachruf natürlich befreundet.
    Irgendetwas «fehlt» diesen Politikern; weswegen sie sich vermutlich so gerne mit Künstlern umgeben – die sie nicht ernst nehmen, die sie aber offenbar um irgendetwas beneiden.
    17. Oktober
    Wie man wohl sterben wird? Komme eben vom «Ergebnis» – Gespräch mit meinem GOTT IN WEISS namens Professor Greten im UKE: ALLES ist OK, «wie bei einem jungen Mann» – Herz, Nieren, Lunge, Leber, Bauchspeicheldrüse, Durchblutung; nur das übliche zu hohe Cholesterin («genetisch»). Aber EINES dieser Organe wird ja mal versagen? Wie? Wann?
    22. Oktober
    Die Schatten werden länger, die wieder kullernden Kastanien und die herabraschelnden Blätter des Walnußbaums: Symbol, Symbol für die ablaufende Zeit. Zugleich wird mein Verstehen immer kürzer:
    Vorgestern abend diese Theater-Collage DIE STUNDE NULL, angerichtet vom neuen Scene-Regie-Star Marthaler – für mein Empfinden ein wichtiges Thema vollkommen vergeigt, in deutscher Humorigkeit – Nachttopf auf der Bühne, umkippende Gartenliegen – ertränkt. Die Unterhose (tatsächlich mußten sich diese alten häßlichen Mimen bis auf die Unterhosen ausziehen) als Argument! In Wahrheit dampfte genau DIE Spießigkeit, die entlarvt werden sollte, von der Bühne herab, mit Zoten, Schunkelliedern und Klamauk. Das ist der ästhetische Irrtum, dem weiland viele Gruppe-47-Autoren unterlagen, die meinten, Reiseprospekt-«Lyrik» zu entlarven, indem sie genau so schrieben, wie Reiseprospekte formuliert sind, so mit «majestätischer Bergwelt» und «der rauschende Bach». Genauso majestätisch rauschte es hier.
    Dieses Neo-Rokoko, in dem jeder Geschichtspickel überpudert und jede Schuld-Falte zugeschminkt wird in Humor, Gefälligkeit und Amüsement, macht mich verzagt.
    5. November
    Zweimal Sinistres – gar doppelt Sinistres – ist nachzutragen. Kürzlich während eines schweigend-einsamen Abends bei Kaminfeuer und zugegeben reichlichem Bordeaux dachte ich: «Eigentlich kann ich bald das Telefon abmelden.» Hätte ich an dem Abend GEWOLLT – ich wollte NICHT –, so hätte ich nicht gewußt, wen anrufen. Es sind nämlich fast alle tot – und die, die leben, mit denen bin ich verzankt oder «nehme übel» à la Rühmkorf; oder entferne mich, wie vom besserwisserischen Grass.
    Aber die vielen Toten – mein schönes kleines ledernes Adreßbuch wäre hostiendünn, würde ich per Streichung es neu anlegen – sind etwas Schreckliches: Bihalji-Merin oder Fechner, Ledig oder Horst Janssen, Golo Mann oder Rauch, Sonnemann oder Witte oder Witter: Das Alphabet hindurch müßte ich Xe machen, sie sind erst soeben, kürzlich oder vor längerem gestorben. «Die Alten» ohnehin: Böll und Frisch, Dürrenmatt und Mary Tucholsky und Bloch und Erich Fried; auf so manchen habe ich Nachrufe geschrieben (die bildeten ein kleines Bändchen …); im Lederbüchlein GEBLIEBEN sind eigentlich sinnlose Eintragungen wie Dönhoff oder Habermas oder Unseld – Leute, die ich nie anrufe und daran auch im Traume nicht dächte (falls man im Traum denkt …).
    Die nächste Kategorie sind die «Untoten», fast die schlimmste: Leute, mit denen ich mich befreundet wähnte und die ganz offensichtlich doch nur den nützlichen Feuilletonchef meinten, für die DER interessant war (weil er Aufträge zu vergeben hatte) und die nun sich NIE oder fast nie melden, die nicht zurückrufen und Briefe nicht beantworten: Hochhuth, Thomas Brasch, Jürgen Becker, Lettau, Höllerer, Enzensberger, Kempowski. Es wird einsam …
    Hôtel Lutetia, Paris, den 8. November
    Erster Tag in Paris. Glücksgefühl – der perlgraue Himmel, die Spät-Sommer-Sonne auf den Fassaden, der goldene Concorde-Phallus: zu Hause.
    Tief beeindruckend die Cézanne-Ausstellung mit der (meiner) wundersamen Beobachtung, daß seine Maler-Liebe (seine Form-Erotik) mehr dem Mann gilt – vom frühen Negerbild bis zu den beiden (ein großes, ein kleines Bild; letzteres auch noch in Privatbesitz!) «Badenden Knaben»: Da ist ein anderes Fluidum, eine zartere – zärtlichere? – peinture . Ergreifend. Wie gerne wäre ich reich,

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