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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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es psychologisch nehmen? Bin mir da meiner selbst garnicht mehr sicher.
    Gestern abend bei Grass, der eben doch ganz anders ist, ganz in sich ruht – obwohl kleine Nebensätzchen verraten, daß er sich schon jetzt grault vor dem Gemetzel, ist erst mal sein neues Buch raus. Die «Haushaltsführung» dort grotesk, Ute lieb, aber keine aufmerksame Gastgeberin, kein Soda im Haus und kein Aschenbecher – respektive ein überquellender – auf dem Tisch, man sitzt in der Küche, ein Sohn schmeißt erst mal den herrlichen Orchideentopf um, den ich mitbrachte, der andere, das Fleisch auf dem Teller, steht einfach beim Essen auf und geht ans Telefon, der dritte – für ihn ist mitgedeckt – taucht garnicht erst auf. Ich erinnerte mich, wie jener Bruno, als ich sie in Wewelsfleth im Winter besuchte, vor Jahr und Tag, sagte: «Günter, hast du die neue ZEIT da?», Grass mich bedeutungsvoll-strahlend ansah: «Siehst du, meine Söhne lesen – und zwar dich», er dann aber bat: «Aber wiedergeben, ich bin noch nicht durch», und der Herr Sohn ganz empört sagte: «Aber wieso denn – ich brauche sie doch, um meine nassen Schuhe auszustopfen.» Klaus Mann im Hause Thomas Manns, Alfred Kerr zu Gast: «Gib mir mal das BERLINER TAGEBLATT», undenkbar. Bin neugierig auf das Buch. Grass will nächstes Mal daraus vorlesen – und wünsche sehr, daß es gut geworden ist. Was er erzählt, hört sich zumindest schön-skurril an, und ich bin immer wieder baff, wieviel er doch offenbar liest, verarbeitet an Material, das er sich doch erst mal besorgen muß.
    Hotel im Palais Schwarzenberg, Wien, den 31. Januar
    Der Besuch bei Günther Anders wird ja seinen Niederschlag im ZEIT-Gespräch finden. Eine der Schwierigkeiten meines Tagebuchs: Vieles an Erlebtem, Gesehenem geht ja unmittelbar in meine (öffentliche, veröffentlichte) Arbeit ein. Also: Die Diskrepanz zwischen meinem Luxushotel und seiner unbeschreiblich ärmlichen, dreckigen, «anspruchslosen» Wohnung – 1 kaputter Stuhl, 1 zerrissenes Sofa, 1 wackliges Tischchen – war bedrückend. Küche ein Schweinestall, verfleckt, voller Reste, geronnener Speisen, dreckigem Geschirr, Eisschrank förmlich speckig – er wollte partout «Kompott» essen mitten im Gespräch, und wie 2 Marx Brothers arbeiteten wir beide in dieser vermisteten Küche an einem Schraubglas mit allerlei verrosteten Zangen. Bis ihm einfiel: «Metall dehnt sich bei Hitze aus», er mit seinen zu Flossen verbogenen Gichtfingern Gas anzündete, das Glas verkehrt herum auf die Flamme stülpte und schließlich mit einem seit gewiß 4 Jahren ungewaschenen Lappen aufdrehte. Dann aßen wir «Kompott» im «Musikzimmer» – da hatte seine letzte Frau, Charlotte, die ihn schon vor 10 Jahren verlassen hat, ihren Flügel stehen. Nun steht da nichts – 2 Stühle, 1 Tisch, ein leeres Bücherregal und ein Handtuch – als Wandteppich – aus Hiroshima. Ambiente wie die Kompott-Scene sehr typisch für Anders, seine Intelligenz, seine care-less-ness gegenüber allem Irdischen («Ich kaufe mir nicht mal mehr eine Hose, ich demissioniere ja bald. Wir werden uns wohl nicht mehr sprechen …»). Ein Clochard als Philosoph. Ob er das ist – auch wenn er sich unentwegt so nennt –, bezweifle ich. Mehr ein politischer Publizist. Typisch, daß seine Brecht-Anekdoten das Beste und Lebendigste waren an dem Gespräch; das «Philosophische» eher wirr und – auch des Alters wegen? – dem Gedankengang öfter nicht folgen könnend. Schreckliche «Mahnung» das Ganze vorm Alter. Wenn da nicht seine Ex-Ex-Frau Lisl wär, zu der er abends schlafen geht – wie lebte so jemand? Wie werde ich mal leben, alt und krank? Der Abend vor 3 Tagen bei Wunderlichs kreiste bereits (wie schon oft) darum, wobei Paul nach zunehmendem Wein – und nachdem Karin sich zurückgezogen hatte – in zunehmende Lebensbitternis ausbrach, auch Frauenverachtung: «Frauen sind nie kreativ.» Köstlich, undiszipliniert und quakelig, aber eben doch voller Ideen, Assoziationen, Einfälle, den andern Abend Hochhuth. Auch mit dem mir so sympathischen historischen Gewissen – er sieht zwar auch die herrlichen Bilder in der Kronenhalle, aber er sagt sofort: «Die meisten davon bestimmt für ein paar Mark einem armen, jüdischen Flüchtling abgeluchst.» Erzählte, daß er ein berühmtes Bild, das Klaus Mann im WENDEPUNKT schildert, also den Pringsheims gehörte, bei den Reinhardts wiedergefunden habe; und, als er das Golo und Katja gesagt habe («Sie können doch klagen und

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