Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Ich hatte, weil ich derlei Situationen ja kenne, der Mann mir leid tat, den rausgeschmissenen ZEIT-Chefredakteur zum Essen geladen.
Der Mann kam, legte das Handy auf den Tisch, machte den Mund auf und schloß ihn erst wieder, als er gruß- und danklos um Mitternacht davonfuhr. In den 4 Stunden hatte er nur von sich (und, natürlich, den Querelen der ZEIT) gesprochen – wenn in seinem Mund nicht mein Champagner, mein Caviar, mein Lachs, meine Bresaola, mein Bordeaux, mein Käse, meine Zitronencreme verschwanden; ungekostet, ungepriesen. Es war eine Mund-Diarrhöe.
Schade, daß ich nie mein Stück «Die Journalisten» geschrieben habe – sie wollen die ganze Welt belehren und sind doch (meist) selber ganz kleine Leute. Sie rufen «Herr Kohl darf nicht …» oder «Präsident Chirac muß …» – und haben Angst, auf die Straße gesetzt zu werden. Nimmt man ihnen die verliehene Macht, sind sie kümmerlich und bangen um die Rate, das Reihenhaus abzuzahlen. Die verliehene Macht – die kommt immer vom Inhaber; also vom Geld.
Und ich? Bin ja oft genauso klein, nicht nur im Bangen um irgendein Honorar. Der SPIEGEL-Hieb (ich habe an nebensächlicher Stelle im Heine-Buch Marx mit Lassalle verwechselt) hat mich 2 Nächte «um den Schlaf gebracht» – vor allem durch das Nachdenken: Welcher Selbstverletzungs-, ja Selbsttötungsmechanismus arbeitet da eigentlich in mir, tief-unbewußt? Immer irgendein kleiner, unbedeutender Fehler, den ich hätte bemerken müssen (niemand weiß besser als ich, daß es Lassalle war, der mit Bismarck plauderte) und der sich doch – allen Kontrollen entschlüpfend – einschleicht; wo ich doch weiß, daß man jedem außer mir so etwas durchgehen ließe. Daß der Franz Biberkopf kurz nach der Arm-Amputation «die Hände faltet», hat noch niemanden dazu gebracht, Döblins «Berlin Alexanderplatz» zu verwerfen; zu Recht – ein läppischer Fehler (lustigerweise unbemerkt geblieben), fast ein «Böhmen liegt am Meer», dessentwegen ein Werk nicht minder-wertiger ist. Doch bei mir wird ein ganzes Buch reduziert auf ein Versehen, mehr als «Es war nicht Marx» ist offenbar über das Buch nicht zu sagen. Das sind schreibende Stricher.
Dafür – so weit bin ich gesunken – in der «Hör Zu» gelobt, wo das Buch, unter «Entertainment» aufgeführt, 4 Sterne erhält; als läsen Hör-Zu-Blätterer Bücher!
2. August
Vorgestern mit Anwalt Kersten im VIER JAHRESZEITEN, weil die schwierige Frage, wem ich eines Tages die Tucholsky-Stiftung übergeben soll/will/kann, zu besprechen war. Am Nachbartisch der scheußliche Karasek. Ich rufe zu ihm hinüber: «Nun muß ich auch noch das Hotel kaufen, damit man Sie hier nicht hineinläßt – das Schwimmbad (wo er gelegentlich auftaucht) genügt wohl nicht.»
1. Pointe (ich sah schon merkwürdige Reaktionen auf den Kellnergesichtern): An genau DIESEM Abend WAR das Hotel verkauft worden.
2. Pointe: Karasek ging in die Halle, kam zurück, entschuldigte sich, einen Moment stören zu dürfen: «Trotz all Ihrer Abneigung gegen mich – ich möchte Ihnen eine Kolumne im TAGESSPIEGEL (dessen Herausgeber er ist) anbieten, ich verehre Sie, Sie können absolut schreiben, was Sie wollen – ich sage das in Gegenwart eines Zeugen, eines Anwalts auch noch.»
DER Mann, der mich SEIT JAHREN tödlich verfolgt, die INFAMSTEN Widerwärtigkeiten gegen mich im SPIEGEL initiiert, gedruckt und selber geschrieben hat, der einen im Auftrag des SPIEGEL von mir geschriebenen Artikel mit der Begründung, ich sei ein halber Faschist und der Totengräber Tucholskys, abgewürgt hat – tut nun, als sei das alles nie geschehen, deswegen kann man doch getrost miteinander arbeiten …
Hotel Ambassade, Amsterdam, den 7. August
Verdrehte Gefühle und hoch-überspannte Nerven von diesen 2 Amsterdam-Tagen, mein Ideen-Samen zu einer großen Tucholsky-Ausstellung ist wunderbar aufgegangen, es hat 2 Jahre gedauert, aber nun hat das Goethe-Institut die ganze Stadt in eine Tucholsky-Stadt verwandelt, Plakate überall, 2 großartig inscenierte Ausstellungen, das Ganze «gelegt» auf die internationale Deutschlehrertagung mit 1600 Teilnehmern, von denen ca. 1000 zu meinem Eröffnungsvortrag gekommen waren (der mir, frei gesprochen, gelungen). Gerade meine Akzentsetzung auf «was da – unter und mit Hitler – geschieht, entspricht zu guten Teilen den tiefsten Instinkten des deutschen Volkes» war die richtige.
Dennoch, geradezu verquer, habe ich in letzter Zeit ein bedrängendes Gefühl, der
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