Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
die Klappe halten.
Kampen, den 28. Dezember
Wie eine blaß-geruchslose Winterblume, so «blüht» in mir die Enttäuschung über die/bei der Lektüre der Gedichte von Kavafis (dessen Gesamtwerk soeben, gar zweisprachig, erschienen; leicht angeberisch – und den Preis des Buches verdoppelnd, denn wer kann schon Griechisch).
Es sind doch arg rhetorische Lyrik-Übungen, Geschichtslektionen einer ohnehin vergangenen Epoche à la:
Gleich hier, auf der rechten Seite, im Eingang
Der Bibliothek von Beirut, bestatten wir
Den gelehrten Grammatiker Lysias …
Na und? Was daran ist große Lyrik? Das hat weder heroische Gebärde noch Innen-Raum, noch die Kraft des Epos:
Jener auf dem Vierdrachmenstück,
Der eine lächelnde Miene zu zeigen scheint,
Ein edles, zartfühlendes Gesicht,
Ist Orophernes, Sohn des Ariarathes.
Leer, kostümiert, Vasenmalerei. Aber, was eigentlich schlimmer ist: Auch «jene» Gedichte, also die homosexuellen, die, die ihn zum «anrüchigen» und «modernen» Dichter gemacht haben (sollen), sind eher banal, sind nicht zufällig von dem Gefälligkeitsmaler Hockney mal illustriert worden – kleine Momentaufnahmen schwuler Scenchen à la:
Ihr verbotener Genuß hat sich erfüllt.
Sie erheben sich von ihrem Lager.
Ohne ein Wort zu wechseln, ziehen sie sich hastig an.
Derlei gibt formal gar nichts her und inhaltlich nicht mehr als irgendein beliebiges schwules Tagebuch. Bisher «traf» mich nur ein einziges Gedicht IN VERZWEIFLUNG, das mit der Zeile beginnt:
Er hat ihn völlig verloren …
Weil es eine existentielle, nicht eine Begebenheits-Situation rhythmisiert:
Sucht er seine Lippen auf den Lippen anderer junger Männer
Und sehnt sich wieder nach seiner Liebe.
Doch selbst das – punktiert man die Linie von Shakespeare-Sonetten bis zu Benn – ist nicht wahrhaft bedeutend. Das Gerücht Kavafis hält einer Überprüfung nicht stand.
Kampen, den 31. Dezember
Has-been -FJR zunehmend kritisch bis bissig. Auch das heißt vermutlich Älter-Werden: daß man Dinge sieht, hört oder liest, die man eventuell früher gut, gar begeisternd gefunden hätte – und die MIR jedenfalls inzwischen am Zahnfleisch wehtun – – – Schmalz, das abgesegnet durch «große Namen», anstandslos konsumiert wird, das aber – publizierte man solchen Stuß mal unter eigenem Namen – erbarmungslos gerügt würde. Etwa so ein Satz von Ernst Bloch über Proust: «Der Überschuß dieses Dichters ist die Finesse und Mikrologie seines Porzellanblicks …» Das reine Geschwätz, Worte, die keinen Sinn ergeben, was ist ein Porzellanblick. Zum Speien.
Oder – im letzten Band der RECHERCHE zitiert – so ein Satz von einem der Goncourts: «Man blieb stehen, um das von der Kühle beschwingte zarte Gezwitscher eines Buchfinken anzuhören, der in dem Blütenblatt einer weißen Rose wie in einer reizenden winzigen Badewanne aus Nymphenburger Porzellan plätscherte.» Jedes Wort verzuckert, jedes Bild schief, das Ganze hysterischer Jugendstil, erbärmlich schlecht. Schon die Dramaturgie Prousts, sehr fragwürdig.
Doch macht dieser kritische Blick – Matisse, na ja; Bach, ganz schönes Klingeling manchmal; Tod in Venedig, überkoloriert – einen auch ganz schön arm. Passende Inscenierung eines Jahres-Endes, weil das nahende Lebens-Ende verdeutlichend.
1998
11. Januar
Wirrer Jahresbeginn, weil: Dickköpfig flog ich am 2. 1. nach Nizza, mich dort umzuschauen nach dem berühmten, begehrten Sonnenloch für den Winter (tatsächlich war schon fast Frühling), und HABE eine sehr praktische, perfekt zu handhabende MIETwohnung gefunden. Games people play: Nun bin ich also schlaf-, weil ratlos, ob ich oder nicht; was NUR von Gerd abhängt bzw. davon, ob ich meine, ich kann ihm wochenlange Abwesenheiten zumuten und die Idee: «DER sitzt in Nizza in der Sonne, und ich kann im Büro schuften.» Delicate balance .
Merkwürdigerweise begleitet von ständigen Angst- und Verfolgungsträumen. So ein obscöner Folter-Traum, d. h. (leider) nicht ein Erektions- oder Wichstraum, wie die, von denen Thomas Mann in seinen Tagebüchern berichtet, sondern ein Sexual-Qual-Traum, in dem in Riesen-Klappen hin und her wabernde Nackte, Männlein wie Weiblein, sich die Brüste abschnitten, mit Rasierklingen in den Penis schnitten und so. Grauenhaft.
Gestern abend gemütlicher, vielleicht etwas biederer Besuch zum Abendessen bei Grass auf dem Lande. Er führte seine neue Arbeitsidee vor, die auf erfreuliche Weise zeigte, wie bzw. daß seine
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