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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Vergnügen sich mit ihrer West-Rente, reisen nach Mallorca und verklären die eigene Vergangenheit? Diese hackenzusammenschlagenden, aber auch Menschen zusammenschlagenden Vopos: alle gezwungen, alle nix gewußt, alle «im Herzen dagegen»? Widerlich.
    Interessant die doppelte Moral in der westdeutschen Öffentlichkeit: DDR-Untäter haben eine Art Generalpardon, so unter dem Motto «Wer weiß, wie ich mich benommen hätte …». Schönes Eingeständnis. ICH weiß, wie ich mich benommen HABE – nicht in der Partei, nicht in nichts. Ging auch.
    Diese gezinkte Moral auch gegenüber den kommunistischen Autoren. Zu sagen, Hermlin habe (seine Biographie zurecht-) gelogen, ist Sakrileg. Aber jeder Biograph darf (und muß) sagen, daß Faulkner gelogen hat, z. B. mit seinem angeblichen Absturz über Frankreich im 1. Weltkrieg, der Silberplatte im Kopf und der Offiziers(-Phantasie)-Uniform. Er war nie über Frankreichs Himmel, er ist nie abgestürzt, er war nie Offizier: Aber es gilt, gölte, nicht als Sakrileg, das zu schreiben. Darauf hinzuweisen, daß Hermlin weder im KZ war noch sein Vater im KZ gestorben ist (sondern schlicht in London): Das ist «uralter Antikommunismus».
    Die momentan tobende Debatte über Brechts «Sex for Text»- Diebstahl der Arbeit seiner Liebhaberinnen, die er «anstandslos» als eigene firmierte (und dafür kassierte), 80 % der DREIGROSCHENOPER sind nicht von ihm, alles frei nach Tucholskys Satz «Das Stück ist von Brecht – von wem ist also dieses Stück?» – schlägt die schönsten Blüten. Klaus Völker in der FR, geradezu biedermeierlich entwaffnend: «Zu Brechts schriftstellerischer Genialität gehörte die Fähigkeit der produktiven Aneignung fremder Texte.» Diebstahl ist also genial – wenn er von links erfolgt. Wehe, man fände derlei bei Céline, Jünger oder auch nur Benn – – – die Jagd wär’ auf.
    Schreckliches Nacht-Telefonat von Brasch, einem Blutsturz ähnlicher Anti-Unseld-Katarakt; der habe ihm geschrieben «Jetzt ist Schluß …», weil weder er noch der Lektor sich in dem täglich sich verändernden, wöchentlich neugefaßten Manuskript zurechtfänden. Eine fast dramatische Situation, in der wohl beide recht haben. Brasch in seiner Wut: «Jede Nachttischlampe dieses Verbrechers haben WIR ihm bezahlt, wir, die Brechts und Hesses und Bernhards und Handkes und, ja, auch ich» – gleichzeitig KANN ja aber der Verleger nicht schlicht alles und alles SO drucken, wie ein zwar hochbegabter, aber total die ästhetische Disziplin mißachtender Autor es ihm hinwirft. Allein das Telefonatdurcheinander, eben noch Hölderlin, 1 Sekunde später Finnegans Wake, darauf ein Heine-Aufsatz von Volker Braun in der BERLINER ZEITUNG, dann wird ein Heinegedicht zitiert, dann geht’s um Kokain (Kokain als Produktionsdroge – wieder eine schöne titelfähige Formulierung), dann Unselds Unterstellung, er habe den Lektor zusammengeschlagen (kann man so was unterstellen, also erfinden?), dann irgendwelche 288.000 Mark, die Unseld jährlich an ihm verdiene (???). Chaos pur. Jetzt sollen die 7000 Seiten als Fortsetzungsroman in der BZ erscheinen. Schöne, wilde und unsinnige Idee. Würde natürlich nach 40 Folgen spätestens abgebrochen.
    Kampen, den 26. Dezember
    Der «zue» Himmel (wie man das in Berlin nennt) fördert die düsteren Gedanken: vorbei die Zeiten der großen Essays über Virginia Woolf oder Baudelaire, vorbei die Zeiten der langen Reportagen über Faulkner oder García Márquez, vorbei wohl auch die Zeiten der großen Interviews (sitze hier an dem mit Toni Morrison – und weiß schon jetzt, daß die EINZIGE Reaktion sein wird: «Das müssen wir um … kürzen» – wobei offenbar egal ist, daß dann jedes Komma 100 Dollar kostet). Auch die Bitte um eine «scharfe» Kolumne im Politik-Ressort macht mich eher skeptisch: Sie wollen doch immer was Provozierendes, das niemanden provoziert. Sie sind so kulturfern, vornean dieser Spießer Helmut Schmidt, der – per «Ich» – eine Werbung für die ZEIT zeichnet, in der er prahlt, zu deren Autoren gehören Grass und Enzensberger. Grass hat seinen LETZTEN Beitrag in der Woche dort veröffentlicht, in der ich als Feuilleton-Chef ging, also ca. vor 12 Jahren, Enzensberger hat in dieser selben Zeitspanne eine Glosse von 80 Zeilen drucken lassen, also pro Jahr ca. 8 Zeilen. Das nennt dieser vollmundige Banause «Autor der ZEIT», weil er vermutlich das Feuilleton überhaupt nicht liest. MUSS man ja nicht, aber müssen muß man dann:

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