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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Phantasie, sein Hirn weiter produzieren. Es soll «das Jahrhundertbuch» werden («diesmal wirklich», sagte er ungewohnt selbstironisch – weil er doch so bräsig EIN WEITES FELD als «das Jahrhundertbuch» hatte herausposaunen lassen): Er macht von JEDEM Jahr des Jahrhunderts ein thematisch ausgedachtes Aquarell (also eine Liebknechtrede, das 1. U-Boot, die Erfindung des Stahlhelms – statt der Pickelhaube – usw.).
    Zu diesem optisch erfaßten Thema läßt er «Umfeld» recherchieren (also: Wie war das bei dem ersten Streik im Ruhrgebiet usw.) – und daraus/dazu schreibt er eine kurze, 1 – 3 Seiten lange Geschichte. Blendender Einfall. So war der Abend ein Vergnügen; auch ein Trost, weil er meine melancholische Skepsis aufgrund des Bandes Hans-Werner-Richter-Briefe (den er gerade «voll Bewunderung für deine Aktivitäten damals» gelesen hatte) zu sänftigen wußte. ER zumindest findet, es sei nicht alles dumm gewesen, nicht vergebens verausgabte Lebensenergie.
    Ziemlich entscheidend dann ein sehr kurzer Dialog, nachdem er nochmal in hellsten Tönen von meinem Heine-Buch gesprochen hatte UND zufügte: «Schon dein Marx war wirklich hervorragend.» Darauf ich: «Paß nur auf, wer weiß, vielleicht ist das nächste eine Grass-Biographie.» Was er mit einem «NOCH lebe ich ja, dazu mußt du mich um einiges überleben» eher uninteressiert-leichthin abtat.
    22. Januar
    Gestern abend das, was man als Kind «lebende Bilder stellen» nannte: Grass und Wunderlich bei mir zum Abendessen, und wahrlich, sie stellten das berühmte Klee-Bild ZWEI HERREN EINANDER IN HÖHERER STELLUNG VERMUTEND GRÜSSEN SICH – wobei possierlich ist, wie der alles auf dieser Welt in Form verwandelnde Wunderlich auch diesen «Wilden» zu zähmen weiß; denn zähmen ist ja auch formen. Jedenfalls hatte der Großschriftsteller Kreide gefressen, war zahm bis lieb, ließ die von ihm ach so geliebte Politik draußen und erzählte Geschichten, in denen er – natürlich – AUCH vorkam, aber nicht NUR –:
    wie er Uwe Johnson durch eine Einladung («Komm doch einfach mit») nach USA gekränkt hatte, weil natürlich niemand Uwe Johnson, aber alle Grass kannten; wie er heimlich bei jedem Veranstalter im voraus angerufen und darum gebeten habe, man möge um Gottes willen beide Namen gleich groß auf den Plakaten drucken; wie gleichwohl Uwe Johnson sich zurückgesetzt vorkam und sich im Lauf der Reise überall vorstellte: «Ich bin der Fotograf von Günter Grass.»
    Oder wie er – um dem ziemlich im Abseits vegetierenden Arno Schmidt etwas Rampenlicht zu verschaffen – eine Rede auf ihn gehalten habe, ich glaube in irgendeiner Akademie, und Arno Schmidt war anwesend und kam hinterher, en passant, an ihm vorbei, klopfte ihm auf die Schulter, sagte: «Brav, junger Mann» und ging.
    Zugleich läßt Grass sich auch als Gast die Schau nicht stehlen: Wenn er nun gerade erzählt, darf niemand ihn unterbrechen, und selbst als Karin Wunderlich HINTERHER erzählte, wie der große Einsame aus/in der Lüneburger Heide sie nicht empfangen hatte, obwohl das damals für sie, die junge Fotoreporterin, so wichtig gewesen wäre – – – empfand Grass dies augenscheinlich als Anmaßung. So im Gestus von: «Über Arno Schmidt erzähle ICH!»
    Nur Paul darf und durfte. Als wolle er ihn quälen, berichtete er mit epischer Ausführlichkeit von seinem Besuch im Geburtsort Eberswalde und filibusterte bei steigendem Bordeaux-Genuß jede Andeutung eines «Ja, das kenne ich, als ich in Danzig …» einfach beiseite. Grass hielt brav still und ließ nicht erkennen, welche Qualen er litt.
    Paul genoß es sichtlich. Erschreckend übrigens (was ich auch nicht wußte), daß Grass quasi unter Polizeischutz lebt, leben muß – er hat derart viele bösartige Drohungen, daß eine Art «Sonderkommando», vor allem nachts, immer mal wieder das Haus «abfährt», und Ute ist nachts bereits wach geworden von Nazi-Parolen und «Wir hauen den Grass tot»-Geschrei; auch keine schöne Nachtruhe in dem einsam gelegenen Haus.
    Seltsames PS: Nie je hat man ja von seinem Vater gehört, und als ich danach fragte, spät in der Nacht, kam so gut wie nichts. Beide Herren waren entsetzt – zumal sie derlei nicht an sich erfahren hatten –, als ich von den Prügelorgien MEINES Herrn Vater erzählte, von Hundepeitsche und Pferdepeitsche auf den – extra dazu zu entblößenden – Po.
    27. Januar
    DER SPIEGEL ist eben doch ein Drecksblatt; nach einer über viele Jahre sich hinziehenden

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