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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Zusammenstoß mit dem verdreckten und verschwitzten Harry Rowohlt, der sich in seinem Clochard-Outfit originell vorkommt und in seinem Grobianismus witzig (doitscher Humor), mit irgendwelchen «Da habe ich gesagt, der Raddatz hat doch …» um sich werfend. Mein sehr unverblümtes: «Von Beruf Erbe, mein lieber Herr Rowohlt junior – SEHR kann mir das nicht imponieren – eine eigene Leistung würde ich da schon vorziehen: die ja leider nicht vorhanden ist. Man würde so gerne zu IHNEN aufblicken – aber wenn man sich den Hals verrenkt hat und nach oben blickt: Dann ist da GARNICHTS.» Bin ganz froh, damit wohl das Bürschlein endlich aus meiner Peripherie entfernt zu haben.
    Gran Hotel Bahia del Duque, Tenerife, den 22. Januar
    Same procedure as every year: goldene Armbanduhren, Shorts und nackte Füße in Turnschuhen, Rühr-Ei-Gebirge mit 6 Speckstreifen, dazu Sekt, das Glas am Stiel angefaßt, im teuersten Restaurant – Russen. Ansonsten nach 25 Jahren Ehe: «Nimmst du Milch zum Kaffee?»
    Ich spreche seit Tagen – außer «muchas gracias» – kein Wort, das Eis-Gebirge des Gottfried Benn erschlägt mich (im Sonnen-Liegestuhl!), eine Finsternis-Lektüre, die mich verschlingt; doch das gehört alles ins Buch, keine «Energieverschwendung» durch Nebenzitate.
    Gran Hotel Bahia del Duque, den 24. Januar
    Eine Woche, mehr hält man hier zwischen Vivaldi und Parlez-moi-d’amour am Frühstücks-Buffet nicht aus, die widerlich vollgehäuften Teller, das Hereinbugsieren ihrer Frauen von den Männern, die, nachdem sie bestellt haben, sagen: «Und was nimmst du?» Und die Muttis, die ständig ihrem Männe am Sakko, am Hemd, am Pulli zupfen und mit ungewohnter Gebärde «ein Wein’chen» schlürfen.
    Und dazu 1000 vollkommen niederziehende Seiten Benn!
    Nizza, den 10. Februar
    Getrübter Himmel bei klarer Sonne und in den Azur-Horizont hineinbrennenden Mimosenwäldern (Mandelieu): innerlich nicht zur Ruhe gekommen. Und nun der schwarze Donner zum Abschluß. Hans Platschek erstickt/verbrannt in seiner Wohnung – nach Tagen – aufgefunden. «Die Einschläge kommen näher», sagte der gräßliche Totenkopf-Adorant Jünger dazu; wieder einer weg: der herrlich herrenhaft, verrückt, gebildet, obszön (nie ferkelhaft), schneidend im Urteil und liebenswürdig im Umgang war, voller (meist selbst erfundener) Anekdoten, ein Jude vom Bayerischen Platz im Berlin der 20er Jahre, elegant im Lügen, wenn er behauptete, für viel Geld einen «Brummer» (ein Bild) verkauft zu haben, um die Rechnung im Restaurant übernehmen zu «dürfen», und bizarr, wenn er – in seiner wilden Londoner Zeit mit der ebenso wilden Elsner – in eine Apotheke ging, seinen Schwanz aus der Hose holte, ihn auf die Theke legte und wie nebenhin sagte: «Haben Sie Übergröße in Grün?» Die Elsner sprang aus dem Fenster einer Klinik (weil man sie zum Rauch-Entzug verurteilt hatte), er rauchte eine sehr letzte Cigarette.
    Kampen, den 4. März
    In meine Reparatur-Anstalt übers Wochenende geflüchtet, um allerlei Schocks zu «verdauen». Meine Schwester hat Alzheimer, sitzt alleine in ihrem mexikanischen Dorf und kann ihr Fax nicht mehr bedienen, Geldscheine nicht mehr unterscheiden, Preisschilder auf dem Markt nicht erkennen. Ihr letztes anarchisches Aufbäumen gegen diese Welt, gleichsam unter dem Motto ihres Lebens: «Jemand muß sich um Püppi kümmern.»
    Passend dazu mein Besuch im Hamburger AIDS-Hospiz (das nur «definitiv Sterbende» aufnimmt), das ich mir ansehen wollte, weil ich ihm testamentarisch eine Summe hinterlassen will. Der schauerliche Eindruck eines beflissenen Gut-Mensch-Infernos: «Mögen Sie eine Tasse Kaffee?» und: «Wir sagen nie Patienten, sie heißen ‹Bewohner›.»
    11. März
    TV mit/für Kempowski in Mainz, das übliche Fernsehgequackel. An dem Abend war nur interessant: der ganz durchsichtige, zarte Kempowski, der kaum antworten konnte/mochte, der nach 3 Schritten nach einem Stuhl verlangte, der mit fast unhörbarer Stimme las, der nach 10 Minuten – sein Bier war nicht zur Hälfte getrunken – bei dem ewigen-obligaten «kleinen Italiener» aufstand und sagte: «Ich halte das hier nicht aus, den Lärm, das Rauchen, den Alkoholgeruch»; woraufhin er (es ging ja immerhin um IHN, wir waren doch nur die Dekoration) eilends und etwas angewidert in ein Taxi wie in einen Krankenwagen gesetzt wurde. So wurde der Dichter entsorgt.
    Intelligent, angenehm, witzig, schnell und höflich nur FAZ-Schirrmacher.
    18. März
    Brief an

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