Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Hochhuth
Ach, mein Lieber –
Deine Gedichte sind bedrückend-eindringlich; jedennoch: Du hast unrecht mit dem Satz «Man zieht sich auf dem Markt nicht aus». NICHTS anderes tut jeder Schriftsteller, Lyriker ohnehin: Von Goethe bis Benn haben sich ALLE auf dem Markt ausgezogen, von Rilke zu schweigen. Auch Rühmkorf (speziell) in seinen Tagebüchern, oder jüngst etwa Hilbig in seinem neuen Roman. Ich sehe/sähe KEINEN Grund, WARUM Du derlei nicht veröffentlichen solltest.
Zum Stichwort «Echo-los» ein Kurzdialog:
ZEITsitzung vergangenen Donnerstag. Es wird selbstgefällig der «gelungene Unterhaltungsjournalismus» belobigt, immer und immer wieder. Bis ich: «Habe ich eigentlich recht gehört, daß hier der Begriff Unterhaltungsjournalismus ganz ungeprüft und unkritisch auf unsere Arbeit angewendet wird?»
«Ja – haben Sie was dagegen?»
Haug von Kuenheim: «Aber Fritz, das MAGAZIN z. B. war immer Unterhaltungsjournalismus.»
ICH: «Sie halten ein Interview mit Francis Bacon, einen Proust-Essay, eine Reise auf den Spuren von William Faulkner für ‹Unterhaltungsjournalismus›?»
De Weck: «Ich habe garnichts gegen unterhaltende Texte.»
ICH: «Aber können wir denn nun auch hier im Hause nicht mehr korrektes Deutsch benutzen? Tucholsky etwa war gewiß ein ‹unterhaltender› Schriftsteller, vielleicht unterhaltender als so mancher ZEITleitartikel – aber er war doch kein UNTERHALTUNGSJOURNALIST, sowenig Martin Walser ein UNTERHALTUNGS-Schriftsteller ist, weil er unterhaltende Romane schreibt. Ist dieser Unterschied hier nicht mehr gewärtig?» –
De Weck: «Nein.»
Wir haben, mein Lieber, unser Stück vom Kuchen gehabt, länger gar als so mancher (deswegen verhaßt). Ein Freund riet mir jüngst: «Seien Sie doch um Gottes willen Fatalist»; nur gab diesen Rat ein Nichtstuer – wie kann ein Schreibender Fatalist sein??
Sei herzlich gegrüßt vom Fritz .
1. April
Sonntags-nach-Frühstück-Spaziergang, den Leinpfad entlang. Dort sitzt auf einer Bank eine einsame alte Frau in schäbiger Jacke und Pudelmütze, mit einem Stock im Boden stochernd, erloschenes Gesicht; genau gegenüber von Augsteins Führerbunker-Villa. Es WAR Rudolf Augstein. Ein Bild des Jammers, fast hätte ich ne Mark hingelegt. Sic transit …
5. April
Gestern abend eine Art Beerdigungsfeier: die Verleihung des ersten «Christian-Ferber»-Preises an Reiner Kunze im Literaturhaus: der Saal brechend voll mit «Ehemaligen» – die gehbehinderte Witwe Ferber, der blond gefärbte «Ehemalige» Klaus Geitel (der allerdings eine brillante und berührende Laudatio hielt), der kaum-noch-sprechen-könnende alte Konsul Wickert, der ehemalige Gefährte und Freund Ferbers namens FJR, der ehemalige DEUTSCHE GRAMMOPHON-Mächtige Plagemann, der nun mit Krückstock im Foyer kauerte.
Kunze liest seine Gedichte derart auf Wirkung gedrillt, mit eingebauten Pausen für Lacher (oder Schluchzer), mit Zischen und Wispern und allerlei Lautmalerei, mit einem «Sie können gerne ‹Bitte noch einmal› rufen, wenn Sie ein Gedicht noch einmal hören möchten» ins Publikum – – – und in der Tat, er liest dann auf Zuruf dasselbe Gedicht mit haargenau denselben Mätzchen, demselben Aufblick, denselben Pausen noch einmal; und macht so seine – wie ich finde – oft wunderschönen Gedichte kaputt.
Tja, meine Freunde, die Poeten. Grass ist, sozusagen aus Freude über den Nobelpreis (der ihm allerdings fast nur noch fürchterliche Post bringt, 10.000 Einladungen zu Komitees und Präsidien und Podien), in tiefe Depression verfallen. ER rief an – ich hatte mich außer mit einem Telegramm nicht gemeldet, wollte keine Schranze und kein Groupie sein.
Um ihn zu dem Abend, zu dem ich Grassens nun eingeladen habe, dazuzubitten, rief ich eben Siegfried Lenz an, sagte – wie es sich gehört –: «Störe ich gerade?» – – – worauf ein «Nein, lieber Fritz – aber ich sitze gerade an der Vorbereitung für eine Lesung in der Bundeswehrakademie …» – – – und dann kam eine Aufreihung, wo er überall höchst erfolgreich lese und vortrage und welche Menschenmengen sich hinterher am Signiertisch drängen, «die alle ganz viel von mir gelesen haben». Zu dem Grass-Abend kann er leider, leider nicht kommen …
Kampen, den 1. Juni
Gestern hier gelandet; nach: Rückkehr von Boston, Schirrmacher-Besuch.
FAZ-Schirrmacher ein hungriger Wolf; daß er das beste deutsche Feuilleton macht, ist kein Wunder. Er ist «aufgeregt», sieht/riecht/schmeckt
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