Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Monate lang als Fortsetzung und ob meine Honorarforderungen («Das mache ich schon») erfüllt werden können. Seitdem: kein Wort. Kein Fax. Kein Telefonat. Nichts. Immerhin ist es 2 Wochen her.
Kampen, den 21. Juni
Meine Schwester – einst eine Schönheit – macht nun ihren «Kose»namen Schnecke wahr: Sie entzieht sich der Welt und kriecht in ihr Gehäuse zurück; will sagen: Ob Alzheimer oder wie die Sache immer heißen mag – sie, die Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch perfekt spricht/sprach, früher gar Russisch, kann keinen Satz mehr ohne Fehler sagen («Er hat mir das weggenommen, wie heißt das, womit man abschließt?» – gemeint ist der Schlüssel). Sie erkennt ein STOPzeichen nicht mehr («Was bedeutet das?»), sie begreift den Unterschied zwischen 10 und 100 Dollar nicht mehr (auch nicht, wenn ihr Latin Lover sie ausplünderte), sie ißt und trinkt nicht, außer dazu gezwungen, schläft unausgezogen und in Schuhen.
Ich bin entsetzt und tieftraurig, eben wurde hier ein neues Faxgerät angeschlossen, und ich musste zu Gerd sagen: «Die Nummer von der Schnecke braucht nicht mehr eingespeist zu werden.» Der elektronische Abschied. Hier hängen Sachen von ihr, die sie nie mehr anziehen, und liegt Bettwäsche usw. für sie, die sie nie mehr benutzen wird.
Kampen, den 25. Juni
«Bärenklaudermatitis» – das wäre doch ein schöner Titel für meine Memoiren: Weil ich eine graziöse, vom Sturm umgeknickte Blume in eine meiner irdenen Vasen rettete, sitze ich seit 3 Tagen mit blasenwerfenden Hautverbrennungen. Symbol für mein Leben: Ich habe keine Instinkte, das Naiv-Animalische ist bei mir verkümmert, Gerds ständiges «Vorsicht, Vorsicht!» kenne ich nicht, was ihn schützt vor roten Ampeln oder steinigen Fußwegen oder «Abstürzen» oder Verbrennungen durch eine Blume!
Kampen, den 26. Juni
Der lexikondicke Band der Briefe Kurt Weill/Lotte Lenya eine letztlich ziemlich widerliche Lektüre, nicht nur wegen des jüdischen Antisemitismus à la «dieser russische Jude» oder «diese polnische Judina», sondern wegen einer Gschaftlhuberei, die reiner Tucholsky ist: «Mein Agent sagt der Regisseur X habe gemeint daß der Schauspieler ihn anrufen werde damit der Produzent der mich verehrt mir ein Angebot macht und es wird nur der allerbeste Screenwriter genommen und abends waren wir bei Y der ein widerlicher alter Jude ist und morgen gehe ich mit Z essen der mit A verheiratet ist die aus dem Hause B stammt und sehr gute Verbindungen zu MGM hat und meinetwegen C einladen wird der gestern mit D gegessen hat und Chaplin ist ‹der bezauberndste Mensch den ich in meinem Leben gesehen habe› … weil er ‹den ganzen Abend nur mit mir gesprochen hat›.»
So geht es Seiten und Seiten und Seiten (während die Lenya mit dem jeweiligen Lover im Bett liegt), «eben hat … angerufen … ich war bei dem musikalischen Leiter von MGM, er hat in Tönen von mir gesprochen, daß ich dauernd schamrot werden müßte. Ich sei etwas, was sie unbedingt brauchen …» – der ganze Weill ein Schmock, «ein nicht herangelassener Herr» (der, dies ist das Seltsame, ja ‹herangelassen› WAR, von Anfang an in USA nicht nobody – wenn auch nicht berühmt – war, ganz gut verdiente) – – – aber es geht nur: «Der Agent sagte, Mrs. X kenne Mr. Y, und der habe gestern mit Mr. Z telefoniert, wobei ihm gesagt wurde, daß …» Und nur die berühmtesten Stars und die berühmtesten Regisseure – – – die Minuten später alle «aufgerissene Arschlöcher» sind, wenn nicht Schlimmeres, nämlich «Juden», ob Gershwin oder Brecht, Adorno oder Max Reinhardt oder Fritz Lang.
En bref: Herr Wendriner macht Musik.
3. Juli
LES BEAUX ADIEUX – wie könnte der Plural vom Plural heißen, «am Adieusten»? So jedenfalls häufen sich nun die runden Geburtstage, die Adieux, die Beerdigungen: am Wochenende beeindruckend-festlich der «Abschied» von Jürgen Flimm als THALIA-Intendant, burlesk, wie eben Theater-Leute das können, mit einer «elegant hingeschmissenen» (seiner letzten) Shakespeare-Inscenierung: Dieses Shakespeare-Lustspiel WAS IHR WOLLT ist ja, weil so locker gestrickt und so così-fan-tutte-haft gebaut, geradezu prädestiniert für angenehmen Klamauk, wo man dann auch mal mitten in einer Scene «lieber Jürgen» rufen kann oder ein Gedichtchen auf den Scheidenden eincollagiert. Und bißken Musike und bißken weiße Luftballons und bißken Tränen und Lachen und Umarmen: alles zusammen anrührend. Nun geht
Weitere Kostenlose Bücher