Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
«Vorlaß» genannte Nachlaß.
Ein Abschieds-Reigen. Das fürsorgliche Hausväter’chen, das korrekt sein Haus bestellen will (und alles für Gerd – auch und vor allem das Finanzielle – ordentlich geregelt hinterlassen will).
«Mach nur einen Plan – und mach einen 2. Plan –, gehn tun sie beide nicht», sagt der Klassiker.
Kampen, den 16. September
Emotionalen Inzest – gibt es das? Zum zweiten Mal wüsten Traum «auf» Französisch, was bei meinem schlechten Französisch nicht nur lächerlich ist, sondern auch befremdlich. Da es ein Traum mit und über meine Schwester war, deutlich ein «über» die Schnecke Zurückträumen zur französischen Mutter. Deutlich, weil auch der russische Lover der jungen Schnecke eine – natürlich: sexuelle – Rolle spielte.
So sickert die Schwester, ihr bewußtloser Zustand, in MEIN Bewußtsein – auch wenn ich das am Tage – und am wirkungsvollsten in der Arbeit – verdränge.
Im Marbach-Archiv sind die Oelze-Briefe AN Benn verwahrt. Der Lordsiegelbewahrer – ich weiß nicht, wer es ist, wieso er es ist, welchen Verwandtschafts- oder Erb-Grad er hat – verweigert mir die Einsicht. Der Herr Provinzprofessor schreibt unumwunden, er habe «eigene Pläne» damit. Ist so was zulässig? Was wäre, ich würde Einsicht in Tucholsky-Materialien mit dem Argument, ich hätte «eigene Pläne» damit, verweigern??!
Zum Schluß was Komisches (Eitles). Bei meiner Jugendliebe Ruth in Berlin tauchte ein Zollfahnder auf, sie hat wohl in der Schweiz ein Auto gekauft, und das darf man anscheinend nicht. Der Mann wurde in etwas gebeten, was offenbar eine Art Bibliothek ist – sah dort einige Bücher von mir stehen, strahlte: «Ach, gnädige Frau, sind Sie auch ein Raddatz-Fan? Ich lese ALLES von ihm …»; dann sagte er Buchtitel auf, sprach vom Toni-Morrison- und vom Saul-Bellow-Interview … Und es wurde nicht mehr zollgefahndet!
Tucholsky sagte zu so was: «Finnstes»?
Hôtel Pont Royal, Paris, den 30. September
Sah ein paar schöne Dinge – ohne Begehrlichkeit. Angesichts einer Sèvres-Terrine mit einer Schnecke drauf brach ich fast in Tränen aus.
The St. Regis, New York, den 4. Oktober
«Tag der deutschen Einheit» …
New York schien mir freundlicher als Paris, wenn man auch weiß, daß die «may I help you»- und «enjoy your dinner»-Freundlichkeit dressiert ist: Es hilft. Aller Service 1a, Stadt sauber, leuchtend, strahlend im neuen Reichtum, die Armut gewiß «an die Ränder» verdrängt. Jedoch: Ich finde, es ist vertane Lebenszeit, wieder MoMa (scheußlich vollgepflastert mit Zeitgenössischem), wieder Atem verschlagen von Vermeer und Velázquez im Metropolitan, wieder baff über die perfekte Altmodischkeit im Theater und darüber, wie leicht Amerikaner zu amüsieren sind – ob in einem platten Gore-Vidal-Stück oder, wenn 12 nackte Jungs ihre – überraschend kleinen – beschnittenen Pimmel hin- und herschwenken; derart provinziell-banal, daß ich in der Pause ging.
«Interview» mit Roger Straus bühnenreif: 2 altgewordene, halb-taube Herren in überkommener Eleganz essen jeder einen Salat, dazu etwas Wasser (wohin sind die Zeiten der 4 bis 5 Martinis vor dem Essen …), verstehen jeweils die Hälfte von dem, was sie ohnehin mißverstehen. Fragte mich, wieso Ledig emigriert sei: So viel wußten die beiden «Freunde» voneinander …
Antiquitätenbummel – Symbol für Amerika: entweder Schrott und Gefälschtes oder Ruhlmann für 200.000 Dollar. Die Tiffany-Lampe, die ich bei meiner rührenden Mrs. Rosenblatt gerne gekauft hätte, kostete 85.000 Dollar! Ihr tauber Mann las derweil einen Internetausdruck der zusammengefaßten Holocaust-Literatur. Gut, daß er taub und meinen deutschen Akzent nicht hört.
Freue mich auf meinen Schreibtisch.
23. Oktober
Gestern abend in TOSCA, wegen Benn, dessen Lieblingsoper das war; fest entschlossen, es fürchterlich und kitschig zu finden. Stattdessen sehr berührt – und verwirrt.
Diese rasende Liebe, dieses Sein-Leben-opfern-füreinander, dieses «nur dich»; wie lange ist das bei mir her? Wenn Liebe DAS ist, das Sich-Fressen, das Die-Haut-des-anderen-überziehen-Wollen, diese Raserei und gegen die Sterne bleckende Flamme: Dann ist’s bei mir lange her.
Wenn aber Liebe das Gefühl von Beständigkeit ist, von Sich-aufeinander-verlassen; VON «ich bin froh, daß es dich gibt» und von nicht mehr ohne den anderen leben wollen: Dann liebe ich Gerd.
Das Streicheln nimmt ab, das Streicheln in Gedanken nimmt zu, es
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