Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
hineinsehen konnte – ‹in Augenhöhe›, wie das neue Modewort heißt (sonst sieht man ja die Skyscraper nur von unten): Da konnte man die Ameisen krabbeln sehen, in jedem Stockwerk in ihren gläsernen Waben eingesperrt, klimatisiert und gestanzt, emsig und taub, gar willenlos gemacht, «job and money» als Lebensmotor ihnen eingesetzt, da, wo Träume, Sehnsüchte, Hoffnungen sitzen müßten. Produkte, nicht Teilhaber der Gesellschaft; auch der Company. Wo Menschen eine Seele haben (sollten), hat man diesen armen Fett-Wesen ein Zähl-Maschin’chen ein-operiert.
7. Mai
Wenn man doch Träume verstünde, SICH durch sie definieren könnte, daß ich fast ausschließlich Angst-Zank-Streit-Disput- oder Verfolgungsträume habe mit schrecklichsten Untergang-im-Moor- oder Absturz-aus-Himmelhöhen-Scenen: Daran habe ich mich im Laufe der Jahrzehnte gewöhnt. Wobei merkwürdig ist, daß ich meine, früher viel weniger geträumt zu haben. Dieses Zunehmen hat wohl mit dem eigentlich Beunruhigenden zu tun: Seit geraumer Zeit scheinen meine Träume Ersatz-Existenzen zu sein. Ich phantasiere allenfalls die Dramaturgie zurecht, aber das Personal nehme ich so gut wie AUSSCHLIESSLICH aus den Personen «meiner Welt» (wie untergegangen die auch sein mag): Jugendliebe Ruth oder Ledig, Kommilitone Schneider oder DIE ZEIT, VOLK & WELT oder Rowohlt, Grass oder Zadek. Alle immer in verqueren und – der Natur des Traumes entsprechend – absurden Situationen, aber – ABER: Es sind fast immer Dialog-Scenen, Dispute, schlagfertige Repliken, Argument-Ketten, deren Rapidität meiner ehemaligen Schnelligkeit (des Kopfes) entspricht. Das heißt doch wohl: daß ich mein gemächlicher werdendes Leben, meine Situation des has-been , des Nicht-gefragt-Seins in Wahrheit nicht verdaut habe, sosehr ich mir Mühe gebe, unter blühenden Büschen im Garten zu liegen (oder auf der Nizza-Terrasse oder in Kampen); daß ein Schwungrad weiter-schwingt, das aber keinerlei Funktion mehr hat. Ein dressierter Delphin, der noch aus dem Wasser schießt und tanzt – – – dem man aber gar keinen Ball mehr zuwirft. Und das wiederum heißt eigentlich was ziemlich Übles: daß ich also DOCH in 1. Linie der schnell-reagierende Journalist war («Papst ist tot – Küng anrufen»), der letztlich nicht eigenschöpferische, der in 1 Sekunde Biermann anruft, nachdem er nachts die Nachricht von Dutschkes Tod erhält: Das Gedicht «Drei Kugeln für Rudi Dutschke» schrieb dann aber eben Biermann, was wiederum heißt, daß ich eben KEIN Schriftsteller bin, Verknüpfer, ein Teppich-Weber – wenn nicht gar Teppichhändler –, der aber nach dem vorgezeichneten Muster des ENTWERFERS webt. Daher wohl ein guter Verleger (der immerhin viele Autoren entdeckte, deren Name und Werk heute die Kataloge anderer Verlage schmücken: Fichte und Mishima, Vargas Llosa und Isaac Singer, Mayröcker und Jelinek, Konrad Bayer und Kempowski – allein, daß ich MIR das hier bescheinigen muß …): Aber wo und wenn und wann von mir die Rede ist, dann ist’s eben von dem Feuilletonchef oder Verlagsmann, bestenfalls noch dem Essayisten. Der Autor als Irrtum?
8. Mai
Der Meine-Welt-geht-unter-Song, wievielte Strophe? Die Presseabteilung des Propyläenverlages (da zu Springer gehörend, Teil des 3.größten Medienkonzerns) lädt mich zu einer Lesung (aus dem Benn-Buch) mit ROBERT Walser ein. Die Verlegerin Antje schwärmt von der Pariser Wohnung von Christoph Eschenbach: «Alles Art déco, voller Gallé-Vasen.» Die Lektorin des Propyläenverlages, die kürzlich hier 3 Tage mit mir die Endredaktion machte, ist «jetzt noch hingerissen von dem Bodega» (ich vermute, sie meint Botero). Gestern abend zum Essen bei Antje, wo auch – «Ehrengast» – Peter Zadek saß (dessen Premiere eines amerikanischen vergifteten Boulevardstücks wir tags zuvor gesehen hatten): Er ist doch letztlich eine sehr unsympathische Type. Ließ NIEMANDEN gelten: Peter Stein ein Dummkopf, die Hoger «fürchterlich»; die Thalbach «ein Graus»; der eigene Star des Abends, Frau Engel (eine Jung-Kopie der Ilse Ritter), «eigentlich keine gute Schauspielerin, aus der wird nichts, eine Zicke mit Allüren, noch dazu andauernd krank – eben aus dem Osten»; Heiner Müller – «seine Literatur habe ich immer Scheiße gefunden» – – – der große Mann erinnerte sich aber sicherheitshalber nicht, daß er MIR – «du hast meinen Freund beleidigt» – vor vielen Jahren mein Hanns-Eisler-Stück (das er «unbedingt
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