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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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daran liegt, ist nicht ganz klar. Letzte Nacht träumte mir gar irgendwas von einer Festschrift, von einer Joachim-Helfer-Rede, von Riesen-Empfang auf der Buchmesse (wo in Wahrheit einsam und verspätet Antje Ellermann einen Tisch für 3 Personen bestellt hat, nur: Der dritte Gast ist unklar …), eben abgesagt. Es bleibt bei meinem ganz kleinen Abendessen Ende September mit Grass, Wunderlich und Kersten, der «harte Kern». Was auch genau richtig ist – – – aber ich «wollte» offenbar mehr.
    Nachzutragen wäre noch die Freundschaftlichkeit von Grass, der ja neulich extra hierherkam, um mich, den Sammler, den Literaten, den Kollegen, in die Kamera für «jenen» Film zu sprechen. Nun habe ich im Schneideraum «abgehört», was er gesagt hat: Benn würde schreiben: «Danach kann man nur noch sterben» (werde ich auch bald, wenn ich mich weiter so überanstrenge und so furchtbar viel rauche wie in den letzten Wochen).
    Kampen, den 22. Juni
    Kälte, strömender Regen, rasende Schmerzen im Nackenwirbel (gestern für 3 Stunden nach Hamburg zum Arzt, dessen ansonsten bewährte Spritzen auch nix halfen/helfen): Noch vor 1 Woche dachte ich: «Na, es geht alles so gut, ZU gut, Museumsfilm fertig, Marebuch-Verhandlung endlich abgeschlossen, 2 Bücher in Produktion, paar gute, große ZEITbeiträge auf der Rampe», und nun wird das Unheil kommen. Und schon isses da, vielleicht ist Unheil das zu große Wort – aber, daß ich nun regelmäßig – mal Rücken, mal Schulter, mal Nacken – wie ein Junkie meine (Cortison-)Spritze brauche, ist ja AUCH ein Zeichen zum Ende hin. Interessanterweise WEISS man das, und ich will es dennoch nicht wahrhaben.
    Dazu paßt die ‹Materialermüdung› bei Freundschaften, selbst bzw. leider auch bei so engen, wichtigen und über Jahrzehnte gehalten habenden wie die zu/mit Wunderlich und/oder Grass. Es ist wie in langen Ehen: Es kommt der Moment, wo man sich eigentlich nix mehr zu sagen hat respektive man schon, wenn der andere den Mund aufmacht, weiß, was er sagen wird.
    So Ende vergangener Woche das Abendessen mit Wunderlich, einerseits schön, genießerisch und liebenswert wie stets, aufmerksam und sogar an meiner Arbeit interessiert (von der eigenen redet er seit langem nicht mehr, vorbei die Zeiten, zu denen wir darüber regelrecht diskutierten) – – – aber eben auch nur an MEINER. Sonst interessiert ihn nichts und niemand, es sei denn Anekdotisches, wenn ich immer sage, mein Neugier-Pegel ist abgesunken, ich muß nicht zum x-ten Male ins Van-Gogh-Museum oder in die Frick Gallery: Dann ist sein Teilnahme-Pegel, seine Neugier, auf Null gesunken. «Bloß weg mit dem Schrott», sagt er zu den von ihm einst erworbenen Bildern von Botero oder Richter – und bietet sie bei Christie’s zur Versteigerung aus. Fast ein poetisches Aperçu in diesem Zusammenhang (des Vergehens; auch ein schön-doppeldeutiges Wort …): Karin brachte mir ganz besonders herrliche, aprikosenfarbene Pfingstrosen mit, riesige Blüten wie Mohn; und Paul sagte: «Warten Sie ab – wenn sie verblühen und die Blütenblätter abfallen, sind sie am schönsten.»
    26. Juli
    Wie man – sich – selber zur Farce wird, zu einer schönen (schön heißt in diesem Fall: typischen) Chaplin-Figur.
    Obwohl nun das «Beiseite-gestellt-Werden» sich mählich und gleitend, ergo: eigentlich ja «bekömmlich» vollzieht, macht es mir doch mehr zu schaffen, als ich mir selber zugebe. Ich MERKE es aber – indem ich mich etwa dabei ertappe, in irgendeinem feinen Liegestuhl in irgendeiner meiner feinen Latifundien zu liegen – – – und mit den Fingern trommele. Ganz «die Ruhe genießend».
    Da ich ja wahrscheinlich nicht ‹richtig› begabt war und bin, habe ich wohl diese Leere aufgefüllt, durch Energie, durch Schnelligkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Schlagfertigkeit.
    All dies aber, Schnellebigkeit usw., sind ja chorische Qualitäten, Geschwindigkeit per se gibt’s ja nicht, sie muß immer in Bezug zu etwas stehen, etwas ‹bewegen›. Jetzt rast in mir gleichsam leer das Tempo weiter, ein Riesenschwungrad (wie in einem dieser Stummfilme; war’s «Lichter der Großstadt»?), aber das Wesen eines Schwungrads (glaube ich) ist es, daß es etwas antreibt. Es kann nicht «Schwung» ohne Transmission sein. Dies also die Chaplin-Figur, zu der ich geworden bin: Da dirigiert jemand mit großem Temperament und merkt gar nicht (schlimmer noch: MERKT es), daß da gar kein Orchester ist, auch kein Publikum: nix. Aber er kann die dann

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