Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
aber ohne ‹Anordnung›, gleichsam ohne Dramaturgie.
Kampen, den 26. August
Das auslaufende 6. Lebensjahrzehnt. Kein Grund für frohes Denken, für Glücksgefühl gar.
Wenn zwar auch dies eventuell ungerecht mir selber gegenüber: noch gesund, noch Geld zum Leben, noch angenehme Wohnsitze (= Lebensumstände), noch harmonische Gemeinsamkeit mit Gerd, respektable Feiern vor der Tür und 2 – ZWEI! – Bücher auf dem Tisch, die wenigstens MIR nicht ganz mißlungen scheinen.
Doch DAS bereits das Thema, das ewig zu variierende: private Akklamation und öffentliche Attacke. Der Kritiker der WELT – sich anmeldend zu einem Interview – sagt: «Nach Ihrem Buch ist alles, was über Benn geschrieben wurde, Makulatur.»
Wird er’s schreiben?
Lustig-primitiv-ärgerliche Erfahrung mit einem youngster von der ‹Frankfurter Rundschau›, der ebenfalls zu einem Interview bei mir, mich eingangs «verdientermaßen berühmt» und «Vorbild» und «exemplarisch» nannte. Dann kam das Transkript: eine einzige Arie der Beschimpfung, genährt nicht etwa aus Kenntnis meiner Arbeit, sondern aus Archiv-Kopien, alles im Tone von: «Und dann hat aber die FAZ über Sie geschrieben …»; «Im SPIEGEL stand aber über Sie …» (und zwar, natürlich, NIE eine positive Bemerkung, NUR Aggressives).
Nun ja, derlei Provinz-Häme kann nicht Summe meines Lebens sein. Jedennoch: Es kränkt eben. Was es ja soll.
Interessant, wenn nicht gar wichtig an so einer Erfahrung ist nur: In diesem Kotz-Beruf habe ich nun Jahrzehnte meines Lebens verbracht, um nicht zu sagen mich verbraucht? Diese Leute, die die Welt von Stil bis Globalisierung belehren tagaus, tagein, sind ja selber Früchtchen. Positive Ausnahme dieser Tage Michael Naumann, der in dem Redaktions-Chaos teilnahmsloser Kollegen, von denen ich außer «Wir müssen vorziehen», «Nein, wir müssen verschieben», «Ich muß um … Zeilen kürzen», «Das Bild können wir nicht nehmen» KEINE Silbe zu einem Artikel von mir, dem Updike-Interview, zu IRGENDETWAS HÖRE – der also hier anrief, um mir zu sagen: «Ich wollte, muß gleich in eine Sitzung, nur rasch loswerden: Ihr Updike-Interview ist schlechterdings großartig, und wenn dies wie andere Ihrer Beiträge ungedruckt herumliegt, besteht die Antwort nur aus einem Wort: NEID. Nie schafften die so was, also wollen sie auch nicht, daß es ein anderer schafft – und wollen’s deshalb am liebsten nicht drucken.» Also sprach der Chefredakteur der inzwischen verkommenden ZEIT.
Kampen, den 3. September
70. Geburtstag. Grabstein gekauft.
Kampen, den 6. September
Der alte Rezensent rezensiert also seinen Geburtstag, über den vergnügt zu sein dann doch nicht ganz ohne Bitterkeit gelang. Bitter, weil das Ende so nahe, bitter, weil das große VERGEBENS mit beinernem Finger an die Pforte klopft, bitter, weil die Frage «Das war’s? War das alles?» nicht beantwortbar.
Komisch indes die cérémonies des adieux , will sagen, auch die Stummheit oder Gedankenfaulheit der, ja, ja, Freunde – also sagen wir: der Umwelt. Inge aus Milano schickte eine Präcox-Orchidee, d. h. 8 Tage zu früh; die Mondäne 2 Tage vorher ein Fax: «Der Countdown läuft» und dann 70 allerdings märchenhafte Rosen – aber keine Zeile; sämtliche Neffen (ich wäre wohlhabend, hätt’ ich noch das Geld, das ich über Jahrzehnte für sie ausgab) schickten GARNICHTS (der sogenannte Lieblingsneffe 5 Tage später ein Fax); von denen, die sich «Familie» nennen, also dem Mund-Clan, kam 1 Karte, 1 Brief und 1 Glas Marmelade; von Antje eine Wärmflasche; von Rowohlt keine Silbe, kein Präsent, keine Blume, goarnix; von der ZEIT 1 Anruf Naumann, 1 Anruf Sommer, 1 Briefkarte eines stellvertretenden Chefredakteurs (sogar besonders nett) – in meiner naiven Eitelkeit hatte ich FEST angenommen, es käme mindestens 1 Kiste Champagner (die ja, ganz überflüssig, Herr Naumann zum Grass-Interview angeschleppt hatte).
Am interessantesten ist letztlich meine Selbstüberschätzung. Ich war SICHER, etwas vom Bundespräsidenten zu hören, vom Kanzler, hatte Sorge, meine Vasen hier würden nicht reichen (die Hälfte blieb leer). Von Wapnewski 1 Buch, von meinem Urheberrechtserben Kersten 1 Brief’gen. Was blieb, war zweierlei – zum einen «die alten Seilschaften»: Gerd Schneider, aus Berlin, Erika, besonders schön und gedankenvoll.
Zum anderen die öffentliche, die «veröffentlichte» Person: Blumen & Brief, sogar Scheck der Dame Raabe von ARCHE, ein Zauberbrief und eine
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