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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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wäre imstande und ginge zurück.
    Steckt in diesen bitteren Kommentaren von mir auch ein Gran Neid? Mich wählt ja niemand in irgendeine Akademie, mich bittet man weder zu Ringvorlesungen noch zu Festvorträgen (der ich nun wahrlich und nachweisbar der Entdecker und jahrelange Förderer etwa von Fichte war), mir hat auch noch nie irgend jemand einen Preis zuerkannt. Mit nun immerhin 55.
    Manchmal möchte ich eine literarische Methode erfinden (und handhaben können), die gleichsam den Menschen die Schädeldecke abhebt, kein Rausch, aber eine Ent-Hemmungsdroge à la Poppers. Mit dem Zeugs in der Nase strömen ja die entlegensten Wünsche und Begierden hervor, die Leute schwärmen von drei Negerschwänzen, die sie sich wünschen oder mit deren Vorstellung im Kopf sie onanieren, sie bieten einem Frau oder Freund zum Dreierfick an, seufzen nach Vergewaltigung durch Lederkerle oder nach Massenorgien. Eben saß da noch jemand elegant gekleidet in einem teuren Restaurant und probierte spitz-züngig einen teuren Bordeaux – und schon steckt er einem dieselbe Zunge in den Arsch. «Die Decke wegziehen» ist ja wohl irgendein biblisches Motiv (hat Hochhuth es mal benutzt?) – das täte ich gern mal in der Literatur, Figuren erst in ihrer Außenrolle zeigen – und dann in ihren geheimen Lüsten, Lastern und Motiven.
    Kampen, den 3. September
    55. Unaufhaltsam auf den Tod zu.
    Da sitze ich – seit 10 Tagen im strömenden Regen – und bin doch zunehmend verzagt über mein Leben. Kleine Trostlichter (wie das, daß Rowohlt anstandslos und offenbar gar begeistert den Faulkner-Essay verlegt) trösten nicht über eine Negativbilanz: Resultat meines Lebens ist ein Stapel Bücher (von dem niemand, auch ich nicht weiß, ob sie das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt wurden). Aber «Lebensgesetz» ist, wie sich mehr und mehr herausgestellt hat, «Unverträglichkeit», um nicht das ZEIT-Goebbels-Wort «untragbar» zu verwenden.
    Wie es Menschen gibt, in deren Nähe Blumen eingehen oder zumindest nicht gedeihen, läßt mein elektromagnetisches Feld Menschen mich abschütteln, fliehen, auch langjährige Freundschaften brechen und auflösen; der Bruch mit Mary ist ein Beispiel. Und die letzte dramatische Kurve, der kaum verhohlene Rauswurf bei der ZEIT letztlich dasselbe – vom Ressort bis zu Bucerius, von Sommer bis zur Lady Macbeth Dönhoff war ich über alle wie eine Art Fieberanfall gekommen. Man brauchte Kamillentees wie weiland Ledig, als er Matthias Wegner sich als feuchte Binde über die fieberheiße Stirn legte. Der gedunsentrunkene Werner Höfer sagte mir ähnliches, in diesem Fall als Kompliment gemeint vorgestern abend in des toten Karlchen Bar: Ich sei so irritierend begabt, so hochgezüchtet dandy-haft, daß sich neben mir jeder als Zwerg, als grob und laut und vulgär, als Mensch mit falschen Gläsern, aus denen er den falschen Wein trinkt, und in falschen Anzügen vorkäme; «derlei macht nicht beliebt», war sein Fazit. Da Höfer zwar dumm ist, aber eine Art weiblichen Instinkt hat, war es sehr lehrreich (außer, daß ich nicht mehr lernen werde).
    So kommen zum Geburtstag allerlei (meist atemlose) Pflichtanrufe, denen man den Gedanken «O Gott, ich muß mich doch kurz bei dem Armen melden» förmlich anhört. Wirklich von innen heraus Getragenes kam nur wenig: Gerd (mit einem sehr, sehr lieben Brief), Mary (eben doch), Jochen.
    Geschenke sowieso nicht, das ist mir auch egal – habe mir selber einen riesigen Hibiskus-Baum ins Zimmer gestellt und werde den Abend mit einer herrlichen Flasche Krug und ½ Pfund des besten Caviar traurig «feiern». Wie lange noch …?
    Merkwürdige Gedanken beim abendlich-nächtlichen Anhören z. B. von Billie Holiday – mir kam Jimmy Baldwin ins Gedächtnis: auch sein Leben immer Kampf, immer unter Hochspannung, noch nie hatte ich bei ihm, die vielen Jahre, die wir uns kennen, das Gefühl, daß er mal sagen könnte: «Ach, nun laß doch mal, reg dich nicht auf …»
    Auch dieses eigenartige Element der Aktivität bei MIR: Ich will sofort etwas TUN bei dieser oder jener Gelegenheit – sei es jetzt diese Habermas-Debatte und sei es vor vielen Jahren bei den Schüssen auf Rudi Dutschke: Ich rief Minuten später Giangiacomo Feltrinelli in Mailand an, und ich organisierte Tage später die einzig wichtige, REALE Hilfsaktion – – – sammelte nämlich Geld; von Augstein bis zu Gabriele Henkel (und war damals noch so geld-dumm, daß ich die z. T. großen Beträge über mein Konto laufen

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