Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
umsonst, ohne Bezahlung, zu wenden. Nie hätte Tucholsky das getan. Aber gegen ihren andauernden Starrsinn gemischt mit List – «Ich habe auch nie ein Gehalt gehabt» – kommt man nicht mehr an. So zerbricht allmählich oder ist schon zerbrochen – eine jahrzehntelange Freundschaft, die mir wichtig war, eigentlich war sie meine «Wahlmutter».
Wie schützt man sich davor, genauso zu werden?
1. August
Spaziergang am Falkensteiner Ufer weckt viele heterogene Gedanken.
Umschlag von Dreck in Schönheit: Da überschwemmt nun einer, Axel Springer, das Land mit seinem BILDschlamm, und das Resultat ist ein Märchenpark mit einmaligem Blick. Aber der Sohn, der es geschenkt kriegt, setzt sich nachts auf eine Parkbank und schießt sich eine Kugel in den Kopf.
Ich bin mit allem zu früh (auch mit dem Tod?): wie ich bei Rowohlt zu früh Horváth oder Hasenclever oder Toller verlegt habe. Zu Horváth sagte mir der damalige Kulturelles-Wort-Chef des Hessischen Rundfunks: «Wo haben Sie den tollen Übersetzer aus dem Ungarischen für diesen jungen Dramatiker gefunden?» Man muß, vor allem in dieser Stadt, erst tot sein: JETZT gibt es ein – übrigens unangemessenes – Fichte-«Festival»: Haupt-Rede von Hans Mayer («aber nur, wenn ich alleine spreche»). Der ja immer der engste Freund des jeweils frisch Verstorbenen war. Kaum war Adorno tot, gab’s den Essay «Adorno und ich», und daß Musil die enge Beziehung zu ihm in den Tagebüchern nicht unter Mayer verzeichnet hat, erklärt er einfach: Er sei mit Ulrich gemeint: Der heißt aber «Mann ohne Eigenschaften» … Werde ich also auch «zu früh» mit dem Sterben sein?
Kampen, den 16. August
Mein Tennistrainer sagte: «Sie sind zu ungeduldig, Sie nehmen den Ball zu früh.» Lebensmotto …
Grass wird mir fehlen, der nun für 1 Jahr in sein dämliches Kalkutta abgebraust ist – der letzte Abend zeigte noch einmal eine hypertrophe Erbitterung. Einerseits wohl zu verstehen, und ich bin ganz auf seiner Seite – andrerseits hat’s auch ein wenig die Geste: «Na gut, euch allen ist so was auch schon mal passiert – aber MIR, MIR durfte es doch nicht passieren.» Als nämlich Monk ihm sagte: «Nu gib mal Ruh, jeden von uns hat’s schon mal erwischt, Fechners Film X wollten sie nicht senden, mich haben sie als Intendant fertiggemacht, und Fritz sitzt ja auch mit einiger Erfahrung darin hier» – war ihm das nicht recht, evident. Er ist darin nicht nur Star, sondern auch Diva – hat ja ohnehin etwas Weibliches (nicht Feminines); das sicherste Zeichen IMMER, nämlich Streichhölzer nach innen oder nach außen anmachen, funktioniert bei ihm prompt: Er streicht sie stets – wie alle Frauen – nach außen an, «behütend» sich und das eventuelle Baby.
Merkwürdig (gutes oder schlechtes Zeichen?), wie ich das Alleinsein hier genieße, jedes Detail – die Gräser in einer Vase oder die prächtig strahlenden Sonnenblumen, van-Gogh-haft in einem Krug, das geruhsame Frühstück, dazu Musik und Zeitung, ganz hinten im Kopf spinnt sich die nächste Scene des Buches an, auch wenn ich – wie jetzt – 2 Stunden mit dem Rad durch den Wind und die Dünen fahre.
Dabei komme ich mir auch lächerlich vor in dieser Thomas-Mann-Nachäfferei, es ist frivol und unangemessen, ich Winzigtalent in den zu großen Schuhen der Allür dieses Genies. Erwische mich aber bei grotesken Parallelen, z. B. dem An- und Nachstarren schöner Knaben- oder Männerkörper, von denen es hier natürlich wimmelt, daß mir manchmal schlecht wird im Magen: kräftig-muskulös oder elfenhaft schmal, behaart oder blond nur mit Flaum am Körper – – – ein Wettlauf männlicher Schönheiten, meist nackt, mit herrlichen Schwänzen, Muskeln, Hüften. Komme mir impotent und voyeuristisch vor, mache mich vorzeitig zum Greis.
Erwische mich sogar bei einem seltsamen Balzac-«Plagiat»: Mich beschäftigt das Schicksal der eignen Romanfiguren, habe neulich bei einem gereizten Dialog über Nazizeit und Emigration fast geheult, war gestern bei der wichtigen Scene zwischen den beiden Männern geradezu erotisiert, und heute wurde mir kalt, als ich den «Betrug» schrieb, dessen Opfer die Hauptfigur ist/wurde.
Kampen, den 22. August
Wie viele Leben kann man leben? Vorgestern abend «meinen» Sylter Pastor bei mir, ein fabelhafter, burschikoser Mann, nicht frömmelnd, sehr direkt, aber irgendwie doch tief verankert in seinem Glauben, ohne Augenverdrehen. Etwas zuviel jugendliche Emphase, aber für einen Abend
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