Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
verlaufen – ein schönes Schreibmöbel. Gegessen wurde in der Küche (die winzig, nicht etwa eine gemütliche Eß-Küche ist) vor der Wäscheschleuder, durch deren Fenster man seine dreckige Unterwäsche sah!
Eine Kroetz-Scene: bei dem der über Bölls «Wohnküchen-Realismus» zu spotten pflegte!! Keine Butter, keine Servietten, keinen Kaffee, der Champagner und die elegante Krawatte wie ein Bojen-Signal in einem Meer, das ihn (uns?) verschlingt.
«Ich habe hier keine Freunde», definierte er Berlin, «von 30 Abenden bin ich 29 alleine, höre Musik, lese.»
Betrifft mich das alles so, weil es auch mich betrifft?
Fühle mich wie ein gestrandeter Wal.
7. März
Die letzten 24 Stunden sollten eigentlich für ein Hochgefühl von 4 Wochen reichen: 2 zu Tränen rührende Briefe von Günther Anders und Oto Bihalji zu meinem Thomas-Mann-Artikel.
Brief von
Günther Anders
Lackierergasse 1/5
A-1090 Wien
26. 2. 1987
Mein lieber Fritz,
also mit Deinem Text für die ZEIT über Tommy hast Du mehr, als was Du in Deinem Leben schlecht gemacht oder schlechtgemacht hast, wiedergutgemacht. Dein Text ist die gerechteste Darstellung eines schwer zu beurteilenden Mannes, die ich kenne. Und daß es Dir gelungen ist, diese schwierige Aktion des Abwägens noch amüsant durchzuführen, ist erstaunlich. Welch schöne «Reifeprüfung». Alle goethischen Schrebergärten sind in sich zusammengesunken. Und ich freue mich für und über Dich. Sela! –
Gestern erzählte mir der gute Oto Bihalji, daß Du ihn zu interviewen vorhabest. Spute Dich! Er wirkte über das Telefon sehr gebrechlich. Noch gebrechlicher, als ich bin. –
Hab Dank für Deine Solidarität mit uns, den versehentlich noch existierenden Emigranten –
von Herzen Günther .
Brief von
Oto Bihalji-Merin
Belgrad
27. 2. 1987
Lieber Freund Raddatz,
Dank für Deinen freundschaftlichen Brief mit dem mir wertvollen Vorschlag, ein ZEITgespräch mit mir zu führen.
Ich kenne Deine Interviews und schätze sie wegen ihrer Wahrhaftigkeit und stilistisch gedanklichen Vollendung. Nicht, daß dieses Gespräch übermorgen stattfände, könnte mir Sorgen machen. Eher vielleicht ein zu spätes Datum. Mein Gesundheitszustand ist nicht gut. (Ich schrieb Dir bereits, daß Lise und ich sehr gealtert und krank sind.) Es ist nicht zu erwarten, daß es besser wird.
Dein Gespräch mit mir bedeutet – da ich nicht reisefähig bin – Deinen Besuch in Beograd. Dann könnte ich auch für meine Chronik ein Gespräch mit Dir führen. Das würde ich auch gerne tun.
Heute habe ich Deinen Essay über Thomas Mann gelesen. Das aktuellste Thema, entscheidend für die Rettung des großen Erbes, in dem ich selbst erzogen wurde. Ich habe mit Mann gesprochen und korrespondiert, den «Zauberberg» und «Doktor Faustus» hier befürwortet und dem jugoslawischen Leser nähergebracht.
Niemand hat vor Dir die Vielstimmigkeit und sensitive Dissonanz seiner Partituren so durchleuchtet. Als hätte das Thomas Mann selbst geschrieben (er hätte es nie geschrieben). Ins Schullesebuch gehört dieser Text, allen Deutschen, denen er mißfällt, zum Nachholen bestimmt: hundert Mal laut lesen und dann schweigen.
Wie manches Mal hat Dein ungezügeltes Herz Tabudinge berührt. Viele werden es auch dunkel ankreiden. Die Zeit (nicht die Zeitung, wenn auch sie vielleicht), sondern das fließende Kontinuum von Werden, Vergehen und Auferstehen werden Dir danken. Auch ich.
Herzlich
O. Bihalji-Merin
12. März
Zurück von meiner Wunderlich-«Eskapade»: per Schlafwagen und Schnellzug für ½ Tag zu ihm nach Südfrankreich – das war, nebst der Freundschaft, mein Geschenk zu seinem 60. Geburtstag (den, unglaublich, außer der FAZ die deutsche Presse ignoriert!). Obwohl etwas anstrengend, war’s die richtige Geste, er hat sich mächtig gefreut – wohl über den Besuch noch mehr als über die «Konfektschachtel». In Vassols (!) gemütlich-gemächlich, Paul tatsächlich mit Spuren des Alters, Gicht, Gehör – und, wie bei uns allen, nachlassendes Interesse an der Welt. Umstellt sich mit den eigenen Capricen, sein eigener Zeremonienmeister. (Das Haus, der Garten, sogar das kleine Becken vollgehängt, -gestellt mit Wunderlicharbeiten.)
Das schöne, großzügige Haus in eigenartiger Mischung aus graziös und verkommen – dort ein Art-déco-Möbel mit Rochenhautbezug, aber da abblätternde Farbe. Hier feine Salonmöbel – aber das Eßzimmer zur Küche offen, man «speist» mit Blick auf den Eisschrank! So
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