Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
kriegt. Hm. Mir fehlt im Moment die Ruhe, das richtig zu überlegen.
30. August
Fahrt zur Redaktion. Dialog mit der Taxi-Chauffeuse (einer schleswig-holsteinischen Bauerstochter, wie sich herausstellen soll).
«Zum Pressehaus, bitte.»
«Da, wo die ZEIT sitzt?»
«Genau da.»
«Aber Sie arbeiten nicht bei der ZEIT?»
«Doch, da arbeite ich – wieso?»
«Weil Sie da nicht hinpassen.»
«?????»
«Ich fahre die ja oft, die von der ZEIT. Ich nenne die immer ‹die kleinen Kacker›. Sie tun so, als seien sie Banker – so in Grau und Blau und so. Sie dagegen sind irgendwie – exotisch.»
«Wieso bin ich exotisch?»
«Na – mooksch ehmt.»
«Was ist mooksch?»
«Min Vattah hat imma secht, zu son Typen wie Sie: ‹Paß uf, meen Deern›, hatta secht, ‹dea is mooksch – und hat wat im Kobbe.›»
«Aber was ist denn nun ‹mooksch›?»
«Anners, ehm. Das sage ich Ihnen – wenn Sie da arbeiten: Lange wird das nicht gehen.»
Kampen, den 6. September
Morgen kommt meine Schwester aus Mexiko angeflogen, worauf ich mich freue – und was mich bereits jetzt «stört», weil ich mir so unvernünftig viel Arbeit aufgebürdet habe, daß ich mir nicht einen einzigen Tag «nur Kampen» leisten kann. Dabei war z. B. heute ein Bilderbuchtag, herrlichster Herbst, Milde, morgens schüttender Regen, ab 12 Uhr strahlende Sonne, habe den ganzen Tag draußen gesessen und den dicken Schinken über die Französische Revolution gelesen (der mich in seiner Materialfülle erschlägt und mir im Vorführen der notwendigerweise blutigen Dialektik dieser – oder jeder? – Revolution eben an denen Zweifel eingibt).
Der Geburtstag war ruhig, ein normaler Tag, außer, daß die Champagnermarke etwas besser war (was ich bei meinem sinkenden Alkoholkonsum, besser meiner abnehmenden Alkoholverträglichkeit, mir eigentlich zur Regel machen sollte …). Bekam von Gerd noch eine Komplettierung der HIFIanlage, nun also auch CD, was hier besonders herrlich ist, weil man mit mehr Muße Musik hören kann. Kein Tag ohne Musik hier. Ansonsten eher: nix. Mein Gang zum Blumenhändler – «Ab morgen kommen sehr viele Aufträge für mich» – war so lächerlich wie peinlich, denn außer einem großen Strauß kam ÜBERHAUPT NICHTS.
Parkhotel, Frankfurt, den 6. September
Legen sich die Jahresringe, Ringe der Jahre, wie kühles Eisen ums Herz? Nichts von der Angoisse, die früher stets vor der Messe in mir zitterte – aber auch nichts von der Freude. Ich betreibe knapp und berechnend meine Geschäfte. In Holland erscheint der «Wolkentrinker»!
Kampen, den 13. September
Traurig-bedrücktes Ende der Sylttage: Meine Schwester mußte ins Krankenhaus mit einer – wie kompliziert, wird sich noch herausstellen – Magensache. Ich habe Angst: Krebs.
Der September hat ja in meinem Leben STETS seinen Negativ-Magnetismus – Tod meines Vaters, Bernds Tod; fast hätte ich hinzugefügt: meine Geburt.
Gestern noch Antje Ellermann, die ihren Rogner & Bernhard-Verlag wieder ins Leben zurückerwecken will, dabei war ich derart überreizt und nervös, daß viel Rat von mir nicht zu holen war. Wobei es auch schien, daß sie mehr «moralische Aufrüstung» suchte als effektiven Rat.
Hôtel Pullman, Avignon, den 17. September
Wieder im Abendlicht über «meiner» Bucht, eben – 19 Uhr – noch geschwommen. Erster Besuch in Sanary-sur-Mer, das unten am Hafen sympathisch mittelmeerisch wirkte. Via Centre d’Information Kontakt zu einem «Historien de Sanary», Telefon-Verabredung für nachmittags. Schöne Bergfahrt zu Sterne-Restaurant «Le Lingoustol».
Den ganzen Nachmittag mit dem skurrilen 70jährigen, der als 18jähriger Thomas Mann die Brötchen und Feuchtwanger die Steaks ins Haus brachte, zwischen Petrefakten und 3000 getrockneten Blumen und in alten Ordnern mit selbstfotografierten Orchideen die alten Dokumente der Emigranten gesammelt hat. Der Atem der Zeit, wenn man da Franz Hessel oder Martha Feuchtwanger auf irgendwelchen surveillance- Listen oder in Applicationslisten findet. Schaurig-seltsam die Häuser von: Werfel (neben einer Kapelle!), Thomas Mann (bürgerlich, zurückhaltend) und Feuchtwanger (hochelegant). Wie ihnen wohl zumute war an ihren «lateinischen Meeren», es war so schön hier und lieblich, noch Fischerdorf ohne Cerruti-Läden, aber mit Feigen-Markt. Aber sie waren doch bereits Amputierte.
Hôtel Pullman, Île Rousse, den 19. September
Besuch in Saint-Tropez – wie auf einem Friedhof. Das ist nun 28 Jahre her: ein
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