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Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)

Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)

Titel: Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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immer er sich darunter vorstellte.
    Sie schaute sich in dem Konzertsaal um. Seltsame Architektur, frühe 60er Jahre. Nicht ihr Fall, also. Nils Sprengler führte sie in die zweite Reihe von Block A. Immer nah dran am Maestro, wohin auch sonst. Sie blickte sich um und hätte fast gewinkt. Oliwia hatte sich umgedreht und sie erspäht. Ihre Kollegen saßen rechts von ihr im Gang in der ersten Reihe.
    Sie lehnte sich zurück und ließ das Ambiente auf sich wirken. Die Leute hüstelten, als ob man sich vor dem Konzert noch mal schnell vom Schleim befreien müsste, scharrten mit den Füßen, unterhielten sich leise. Das Licht wurde runtergedimmt, das Orchester nahm seine Plätze ein. Irgendwie feierlich. Dann kam der Maestro. Das Publikum klatschte.
    Was dann kam, war für sie absolut unerwartet. Sie bekam eine Gänsehaut. Es war überwältigend. Der feine Klang der Instrumente, die schwere, volltönende Musik nahmen sie völlig gefangen. So also konnte Musik sich auch anhören. Wenn man genau hinhörte, konnte man jedes einzelne Instrument unterscheiden. Der Rücken von Bernieliebling verschwamm vor ihren Augen. Es fühlte sich an, als ob man nach einem Hotdog in eine handgemachte Praline beißt, die auf der Zunge zerschmilzt. Sie war völlig hingerissen von der Fülle der Töne, die ihr Ohr streichelten und ihre Gedanken davontrugen. So weit davon, dass sie kaum merkte, wie Nils Sprengler ihre Hand ganz leicht drückte. Sie schaute ihn an, er lächelte. Judith schloss die Augen, genoss seine Wärme, seinen Duft, der sie an einen Spaziergang im Wald erinnerte, genoss die Musik. In diesem Moment wünschte sie sich, dass dieses Konzert nie enden würde.
    In der Pause gingen sie nach draußen. Judith merkte, dass einige Leute sie anstarrten, die Nils von Weitem zunickten. In der zweiten Hälfte des Konzerts wurde ihre Ahnung zur Gewissheit: Sie hatte sich verliebt. In Bernieliebling und Mahler.
    Nach dem Konzert schlenderten sie über den Potsdamer Platz, durch die Straßenschlucht zwischen den Steinhäusern des DaimlerChrysler-Quartiers und dem Sony-Glaszirkus.
    „Mögen Sie den Potsdamer Platz?“, fragte Judith.
    Nils blieb stehen und betrachtete das schmale Band des Himmels zwischen den Hochhäusern. „Eigentlich fühle ich mich hier immer wie ein Tourist“, sagte er. Judith nickte. So ungefähr ging es ihr auch.
    „Hat nicht viel mit meinem Berlin zu tun“, sagte sie.
    „Ist Ihnen mal aufgefallen, dass der Potsdamer Platz vor der Maueröffnung Niemandsland war?“, fragte er.
    „Wieso, der war doch immer West-Berlin“, sagte Judith.
    Nils lachte. „Für mich lag der immer in Ost-Berlin.“ Er führte sie in ein Lokal in dem roten Backsteinhaus, das aussah, als ob Philip Marlowe gleich aus dem Fahrstuhl steigen würde. Offiziell hieß das Haus Kollhoff-Tower. Das Lokal hatte den gleichen unterkühlten Charme wie der gesamte Potsdamer Platz. Wenn man überhaupt von Charme reden konnte. Judith stand mehr auf Vintage.
    „Erzählen Sie mir von Ihrem Berlin“, forderte Nils sie auf, nachdem sie hinter einer Glasscheibe Platz genommen hatten. Sie fühlte sich wie in einem Aquarium. Im Laufe des Abends würde sie entscheiden, wer die Fische waren. Die da draußen oder sie hier drinnen.
    Wenn man etwas von jemandem wissen will, dann muss man von sich selbst erzählen. Das hatte sie gelernt. Also fing sie an, von ihrer Kindheit in Berlin zu erzählen. Von der Plattenbauwohnung in Hohenschönhausen, von ihrem Vater, der neben seinem Job am Maxim-Gorki-Theater, wo er als Kulissenbauer tätig war, immer schon auf ihrer Datscha in Blankenfelde Möbel restauriert hatte, die bei seinen Künstlerkollegen reißenden Absatz fanden.
    „Hat Ihr Vater sich gleich nach der Wende selbstständig gemacht?“, fragte Nils, nachdem die Kellnerin mit der Bestellung verschwunden war.
    Judith nickte und fragte: „Und Ihr Vater, wie war er?“
    „Ich weiß so wenig über meinen Vater“, sagte er.
    Judith war baff. „Aber Sie sind doch bei ihm aufgewachsen. Wie war das mit dem Schild am großen Zeh?“
    „Manchmal“, sagte er, „habe ich den Eindruck, dass mein Vater meine ganze Kindheit und Jugend nicht existent war. Er war immer in der Klinik, und wenn er nicht in der Klinik war, dann war er unterwegs, auf der Jagd nach dem nächsten Bild.“
    „Und Sie durften nicht Konzertgeiger werden?“
    „Das war ihm egal, glaube ich. Die Familie war ihm egal.“
    Judith schluckte. Bis jetzt hatte sie den Eindruck gehabt, dass die

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