Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
zog ihn immer zur Kunst.“
„Deshalb ist er also Kunstsammler geworden?“ Linda nickte. „Sie hätten ihn sehen sollen, wenn er ein Bild aufgetrieben hatte, das er schon immer hatte haben wollen. Da war er wie ein Kind, selbst zum Schluss noch.“
Sie blickte auf einen Goldrahmen, der auf dem Schreibtisch stand. Aus ihrem rechten Augenwinkel löste sich eine Träne. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tunika und tupfte sich die Augen. „Verzeihen Sie, er fehlt mir so“, sagte sie.
„Wo sind eigentlich all diese wunderbaren Gemälde, die ihr Bruder gesammelt hat?“, fragte Judith.
„Verpackt, klimatisiert und gut gesichert untergebracht“, antwortete die Chirurgin.
„Was? Diese Kunstwerke hängen nirgendwo?“, fragte Judith.
„Nur Kopien. Im ganzen Haus hängen nur Kopien. Es wäre viel zu gefährlich, die Originale hier aufzuhängen“, sagte sie.
„Aber warum sammelt dann jemand Bilder, nur um sie dann wegzuschließen?“, fragte Judith.
„Bei Kunst geht es nicht darum, die Wände zu schmücken. Meinem Bruder ging es immer um den Besitz eines einzigartigen Bildes.“
„Und wer hat die Bilder jetzt geerbt?“
Linda schaute Judith mit halb geschlossenen Lidern an.
„Wir alle. Die Familie.“
„Und was wird die Familie mit den Bildern tun?“
„Was soll man schon mit Bildern machen?“, meinte sie. „Sie werden wohl in der Familie bleiben. Viele der Bilder, die mein Bruder gekauft hat, haben früher mal unserer Familie gehört. Bilder, mit denen wir aufgewachsen sind, weil hier überall davon die Kopien herumhängen. Und er hat sie dann zurückgekauft.“
„Sie sagten, die Familie hat die Bilder geerbt. Haben alle zusammen die Bilder geerbt oder hat jeder bestimmte Bilder geerbt?“, fragte Judith.
Lindas Augen verengten sich noch weiter. „Ich dachte, Sie wollten ein Interview über die Klinik machen.“
„Ich schreibe ein Feature über Ihren Bruder, da gehört nicht nur die Klinik dazu, sondern auch seine Familie und seine Sammelleidenschaft.“ Judith musste sich unbedingt zurücknehmen. Lindi bockte.
„Er war ein wundervoller Mensch“, sagte Linda. „Sanft, behutsam, ein Künstler.“
„War er auch ein Künstler als Chirurg?“
„Oh ja, er ist einmal ein begnadeter Chirurg gewesen.“ Vollendete Vergangenheit, stellte Judith fest.
„Hat er immer noch operiert?“
„Ich sagte Ihnen ja bereits, dass wir uns in den letzten Jahren auf chinesische Heilkunde spezialisiert haben. Wir haben eine Lizenz von Dr. Chen Ouzang erworben und bieten eine ganzheitliche Therapie an, die vor allem von Managern gut aufgenommen wird. Mein Bruder hat sich in den letzten Jahren neben seiner Lehrtätigkeit an der Freien Universität hauptsächlich auf diese Sparte unserer Klinik spezialisiert, während ich den chirurgischen Teil leite.“
Judith schaute auf Lindas geräucherte Hände und fragte sich, ob sie diesen alten Händen vertrauen würde, wenn sie sich eine neue Visage verpassen lassen müsste.
„War Ihr Bruder krank?“, fragte sie.
„Nein.“ Das Nein hörte sich an wie ein Pistolenschuss, und ihren Augen nach zu urteilen, hatte sie Judith gerade erschossen.
„Führen Sie die Klinik jetzt alleine weiter?“, fragte Judith, in Gedanken immer noch bei den Händen der Chirurgin.
„Oh nein, der Familientradition folgend, hat die nächste Generation die Klinik übernommen. Nils, unser Sohn, arbeitet jetzt mit in der Klinik.“
Hatte sie wirklich ‚unser Sohn' gesagt? Judith ließ es darauf ankommen.
„Unser Sohn?“, fragte sie nach.
„Siggis Sohn war für mich immer wie mein eigenes Kind“, antwortete Linda. Ach, so war das. Mal sehen, was Sabine dazu sagen würde. Linda schaute Judith mit unergründlichem Blick an.
„Er hat die Klinik geerbt?“, fragte Judith. Ihr war wohl bewusst, dass Linda sie gleich rausschmeißen würde.
„Ich wüsste nicht, was die Öffentlichkeit daran interessieren sollte, wer was in unserer Familie geerbt hat“, sagte Frau Doktor.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen.
„Tante Lindi, ich …“
Als Judith sich erschreckt umdrehte, verstummte der Mann, der im Türrahmen stand.
„Oh, Entschuldigung, ich, äh, ich wusste nicht, dass du Besuch hast.“
„Komm ruhig rein, Nils, du kennst Frau Schilling ja bereits“, sagte Linda.
Sprengler Junior schloss die Tür. Judith hatte sich nach dem ersten Blick auf ihn abrupt ihrem Zettel zugewandt und blickte erst auf, als er neben ihrem Stuhl stehen geblieben war. Seine Schritte
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