Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
sie müssen sich Instruktionen holen. Die Männer, es waren wohl drei, riefen sich untereinander Informationen zu. Linda wartete. Was würden die Männer tun? Der Blonde war vor sie getreten. „Du uns nicht verarschen! Wenn verarschen, hier Großbrand, verstanden!“
Linda nickte. Hatte sie die Versicherung bezahlt?, fragte sie sich.
Der Blonde ging um sie herum und löste sie vom Stuhl, indem er die Mullbinden zerschnitt und die Enden einfach weiter um ihre Hände schlang.
„Aufstehen“, sagte er und drückte sie in den Rücken. Gar nicht so einfach ohne Hände, stellte Linda fest. Der Blonde stieß sie vor sich her, sie stolperte zurück Richtung Garage. Und dann sah sie den weißen Fleck an der Wand. Die Lesser Ury-Kopie war weg. Wer hatte ihr Lieblingsbild geklaut? Es war doch wertlos? Was sollte dieser ganze Zinnober eigentlich?
Der Mann, dessen Gesicht sie bisher nicht gesehen hatte, und an dessen Gesicht sie sich wohl auch nicht erinnern würde, weil es so absolut durchschnittlich und nichtssagend war, stieß sie auf den Beifahrersitz ihres eigenen Wagens. Der Blonde setzte sich ans Steuer.
„Garagentor?“, fragte der Blonde. Linda nickte Richtung ihrer Mittelkonsole, wo ihre Fernbedienung lag. Der Blonde drückte darauf und das Garagentor öffnete sich lautlos. Die beiden anderen Gauner gingen zu einem Wagen, der ein bisschen weiter oben auf der Straße geparkt war.
Die haben überhaupt keine Angst, gesehen zu werden, dachte Linda. Ihr war klar, was das für sie bedeutete.
„Wohin?“, fragte der Blonde. Linda gab ihm die Adresse, die er in das Navi eingab, nachdem er sich die Großgörschenstraße hatte buchstabieren lassen und die er jetzt auch per Telefon an seine Kumpels durchgab. Linda lehnte sich nach hinten zurück, soweit das mit gefesselten Händen ging. Sie konnte nichts machen, sie konnte sich nicht wehren. Sie schloss die Augen. Ihre Schulter, die böse, in der sie sowieso schon heftigste Arthrose hatte, schmerzte. Sie fühlte sich hilflos, so hilflos wie damals, als sie von ihrem Bruder schwanger war. Auch damals hatte sie gedacht, ihr Leben sei vorbei.
„Mach dir keine Sorgen, Lindi, das kriegen wir hin“, sagte Siggi, als sie telefonierten. Aus Angst, dass irgendjemand zuhörte, sprachen sie am Telefon nur in Metaphern. Linda hatte also keine Ahnung, was ihr Bruder geplant hatte, als sie ihn mit ihrem Vater zu Beginn der Semesterferien in Tempelhof abholte.
„Du siehst aber mager aus“, sagte ihr Vater, „kommst wohl nicht mehr zum Essen“, als er Siggi sah, der wirklich ein wenig spack geworden war.
Ihr Vater hatte die Vorstellung, dass Siggi, wenn er nicht gerade in der Uni war, die Frauenwelt von New York eroberte, wie es sich seiner Meinung nach für einen richtigen Studenten gehörte. Bei ihnen wurde damals alles mit zweierlei Maß gemessen: Siggi sollte sich ‚die Hörner abstoßen', wie ihr Vater es zu nennen pflegte, und Linda wurde von ihm persönlich von der Tanzstunde abgeholt, damit ihr nicht ‚irgend so ein dahergelaufener Kerl ein Kind macht'.
Es war Schwerstarbeit, Vater nach New York zu verfrachten. Eigentlich hatte er gar keine Lust, wollte lieber mit den Kindern zusammen nach Italien fahren. Linda schützte schulische Probleme vor, schließlich stand sie in ihrem letzten Schuljahr und brauchte dringend ein gutes Abiturzeugnis, wenn sie Medizin studieren wollte. Zumindest darin hatte ihr Vater inzwischen nachgegeben, wobei sie ihm noch nicht gesagt hatten, dass Linda versuchen wollte, ebenfalls in New York einen Studienplatz zu bekommen. Den Geschwistern war klar, dass ihr Vater nicht wollte, dass auch Linda nach Amerika ging. Jedenfalls nicht am Anfang ihres Studiums, denn später würde sie dorthin gehen müssen, die Plastische Chirurgie in Amerika war der in Deutschland um Längen voraus. Aber zunächst einmal musste sie ein ganz normales Medizinstudium machen, und das konnte sie, nach Vaters Ansicht, genauso gut in Berlin, unter seiner Aufsicht, absolvieren wie in New York. Oder zumindest in Hamburg, in der Nähe also. Ihr Bruder hatte nur in New York studieren dürfen, weil Hamburg für ihn einfach nicht in Frage gekommen war, er hätte dann erst zur Bundeswehr gemusst. Da die Sprenglers im amerikanischen Sektor von Berlin lebten, das in dieser Beziehung von seinem Sonderstatus profitierte, gab es hier keine Wehrpflicht.
Aber zunächst hatten sie andere Probleme.
„Ich werde es wegmachen“, hatte Siggi gesagt, „keine Sorge, das kriegen wir
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