Tai-Pan
und ihm den wirklichen Menschen von Hongkong gegenüber Gesicht geben wollen? Selbstverständlich müssen da berufsmäßig Leidtragende sein. Sind wir etwa nicht Noble House? Dürfen wir dem gemeinsten Kuli gegenüber Gesicht verlieren? Wir nicht davon reden, daß es ungewöhnlich schlechte Manieren wären und schlimmen Joss bedeutete, aber du kannst so etwas einfach nicht tun.«
»Bei uns ist es aber nicht Sitte, May-may. Wir machen es eben anders.«
»Natürlich«, antwortete sie freudestrahlend. »Darauf will ich ja gerade hinaus, Tai-Pan. Du bewahrst dir Gesicht den Barbaren gegenüber, aber ich das gleiche meinen Leuten gegenüber tun. Ich ganz für mich hundert Tage trauern, denn selbstverständlich kann ich nicht öffentlich zu deiner Totenfeier gehen und auch nicht zur chinesischen Totenfeier. Ich werde weiße Kleider anziehen, denn das ist Farbe der Trauer. Ich werde mir, wie üblich, Schrein machen lassen, und jede Nacht werden wir uns vor ihm niederwerfen. Am Ende der hundert Tage verbrennen wir dann Schrein, und seine Seele wird wie immer unversehrt wiedergeboren. Das ist Joss, Tai-Pan. Die Götter haben ihn gebraucht, also gut.«
Aber er hörte ihr schon gar nicht mehr zu: Er zermarterte sich sein Hirn auf der Suche nach einer Lösung: wie konnte man das Fieber bekämpfen, das Tal retten und Hongkong schützen?
28
Drei Tage später wurde Robb neben Karens Grab beerdigt. In der Kirche, der noch das Dach fehlte, unter einem wolkenlosen Himmel, hielt Mauss den Gottesdienst ab.
Alle Tai-Pane waren anwesend, mit Ausnahme Wilf Tillmans, der noch immer mehr tot als lebendig auf dem Depotschiff von Cooper-Tillman am Happy-Valley-Fieber darniederlag. Longstaff nahm am Gottesdienst nicht teil. Er, der General und der Admiral waren bereits mit der Flotte, den Transportschiffen und allen Soldaten, die diensttauglich waren, nach Kanton abgesegelt. Die Ruhr hatte die Reihen der Soldaten dezimiert. H.M.S. Nemesis war bereits vorausgeschickt worden.
Sarah saß auf der ersten der primitiv zurechtgezimmerten Kirchenbänke. Sie trug schwarze Kleider und einen schwarzen Schleier. Auch Shevaun war in Schwarz, ebenso Mary und Liza, Tess und die anderen. Auch die Männer waren dunkel gekleidet und schwitzten sehr.
Struan erhob sich, um das Evangelium des Tages zu verlesen. Shevaun betrachtete ihn aufmerksam. Am Tag zuvor hatte sie ihm ihr Beileid ausgesprochen. Sie wußte, daß im Augenblick nicht mehr zu tun war. In ein paar Wochen würde alles wieder ins alte Gleis kommen. Nun, da Robb gestorben war, mußte sie ihre Pläne ändern. Ursprünglich hatte sie Struan sehr schnell heiraten und mit ihm abreisen wollen: zuerst nach Washington, um all die Leute kennenzulernen, die dort ein gewichtiges Wort zu reden hatten; und von dort wäre es nach London und ins Parlament gegangen – nun jedoch dank der engen amerikanischen Beziehungen mit einer weit größeren Macht im Hintergrund. Später wieder zurück nach Washington – als englischer Botschafter. Aber jetzt mußte dieser Plan aufgeschoben werden, denn ihr war klar, daß er erst dann aufbrechen konnte, wenn Culum bereit war, Noble House zu übernehmen.
Zur gleichen Zeit, da im Happy Valley die stille, düstere Totenfeier vor schwarzgekleideten Menschen abgehalten wurde und sich der Leichenzug anschließend über die Queen's Road zum Friedhof in Bewegung setzte, wand sich eine chinesische Leichenprozession mit ohrenbetäubendem Lärm durch die engen Gassen von Tai Ping Schan. Weißgekleidete Chinesen klagten den Göttern ihr Leid und jammerten über den schweren Verlust von Noble House. Sie schrien und stöhnten, ächzten, zerrissen ihre Kleidung und schlugen auf ihre Trommeln.
Die Einwohner von Tai Ping Schan waren vom Aufwand des Tai-Pan und der Großzügigkeit seines Hauses zutiefst beeindruckt. Im selben Maße, in dem der Tai-Pan an Gesicht gewann, verstärkte sich auch das Ansehen Gordon Tschens, denn keiner der Bewohner der Hügelstadt hätte jemals angenommen, daß der Tai-Pan ihre Götter und ihre Bräuche so ehren würde. An sich hatte Gordon Tschen es gar nicht nötig, noch mehr an Gesicht zu gewinnen. War er nicht bereits der größte Hausbesitzer von Hongkong und streckte er seine geschäftlichen Fühler nicht nach allen Richtungen aus? Gehörten nicht ihm die meisten Gebäude? Auch das Geschäft mit den Sänften? Und drei Wäschereien? Vierzehn Fischerei-Sampans? Zwei Apotheken? Sechs Restaurants? Neunzehn Schuhputzstände? Und Kleiderläden,
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