Tai-Pan
Sinclair, von Glessing und Horatio begleitet, auf ihn zukam. Sie sah erschöpft und angegriffen aus.
»Guten Tag, Tai-Pan. Dürfte ich heute nachmittag einmal vorbeikommen?« fragte sie. »Vielleicht würden Sie mir ein paar Augenblicke Ihrer Zeit opfern?«
»Aber selbstverständlich. Gegen Sonnenuntergang? In meinem Haus?«
»Danke. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr … wie sehr mich Ihr Verlust schmerzt.«
»Ja«, sagte Glessing, »das war ein furchtbarer Schlag.« Im Verlauf der letzten Wochen hatte Struan ihn immer wieder und immer stärker beeindruckt. Hol's der Teufel, jeder, der einmal der Royal Navy angehört hatte, der bei Trafalgar auch nur Pulverträger gewesen war, verdiente die größte Hochachtung. Als Culum es ihm erzählt hatte, war seine erste Frage: »Welches Schiff?«, und er hatte sich gewundert, als Culum ihm antwortete: »Ich weiß es nicht, ich habe ihn nicht danach gefragt.« Glessing fragte sich, ob der Tai-Pan möglicherweise unter seinem Vater gedient hatte. Die Frage hatte ihm schon auf der Zunge gelegen, aber er durfte sie nicht stellen, da Culum ihm alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt hatte. »Es tut mir sehr leid, Tai-Pan.«
»Ich danke Ihnen. Wie steht's bei Ihnen?«
»Gut, danke. Verflucht viel Arbeit, soviel ist sicher.«
»Es wäre vielleicht ratsam, bei den Linienschiffen Sturmanker in großer Wassertiefe auszuwerfen.«
Glessing horchte auf. »Können Sie etwa nahende Stürme wittern?«
»Das nicht. Aber jetzt ist die Jahreszeit der Taifune. Zuweilen kommen sie schon früh, manchmal auch erst spät.«
»Vielen Dank für den Hinweis. Ich werde heute nachmittag alles Erforderliche veranlassen.« Verdammt klug, dachte Glessing. Und außerdem trägt dieser Mann Schicksalsschläge mit Haltung. Und ist wohl der erprobteste Seemann, der jemals die Meere befahren hat. Mary hält ungemein viel von ihm, und ihre Ansicht ist viel wert. Auf sein Betreiben führt jetzt die Flotte einen Schlag gegen Kanton, nur ein paar Tage nachdem diese Teufel es gewagt haben, die Niederlassung in Brand zu setzen. Zum Henker mit dem Admiral! Warum, zum Teufel, gibt dieser elende Tropf mir mein Schiff nicht zurück? Ob ich wohl den Tai-Pan bitten könnte, ein gutes Wort für mich einzulegen? »Werden Sie sich der Flotte anschließen?«
»Das weiß ich noch nicht.« Struan sah Horatio an. »Seit wann sind Sie wieder zurück, mein Junge?«
»Seit gestern abend, Tai-Pan. Seine Exzellenz hat mich zurückgeschickt, damit ich ihn bei der Beerdigung vertrete. Das gibt mir die Gelegenheit, Ihnen mein Beileid auszusprechen. Mit dem nächsten Ebbstrom kehre ich wieder zurück.«
»Es war sehr aufmerksam von ihm und sehr freundlich von Ihnen. Richten Sie ihm bitte meine Empfehlungen aus.«
»Er legte großen Wert darauf zu erfahren, wie es Seiner Hoheit geht.«
»Gar nicht übel. Der Großfürst befindet sich an Bord der China Cloud. Besuchen Sie ihn doch. Ich fürchte, daß seine Hüfte verletzt ist, aber mit Sicherheit läßt sich das jetzt noch nicht sagen. Wir sehen uns dann nachher, Mary.« Wieder zog er den Hut, und er und Culum verabschiedeten sich. Struan fragte sich, was Mary wohl von ihm wollte. Wahrscheinlich hatte sie nur die Absicht, ihm von den Kindern zu erzählen. Ich hoffe, daß alles in Ordnung ist, dachte er. Aber was ist mit Horatio und Glessing? Sie wirken so nervös und gereizt.
»Darf ich Sie zu Ihrem Hotel begleiten, Miss Sinclair?« fragte Glessing. »Vielleicht würden Sie beide mir die Freude machen, mit mir in der Marinewerft zu speisen?«
»Ich täte es sehr gern, mein lieber George«, antwortete Mary, »aber Horatio wird uns nicht begleiten können.« Bevor Horatio irgend etwas sagen konnte, fügte sie ruhig hinzu: »Mein lieber Bruder hat mir erzählt, Sie hätten um meine Hand angehalten.«
Glessing war bestürzt. »Ja, allerdings … ja, das habe ich getan. Ich hoffe … nun ja.«
»Ich möchte Ihnen sagen, daß ich einverstanden bin.«
»O Gott!« Glessing ergriff ihre Hand und küßte sie. »Ich schwöre bei Gott, Mary, bei meinem Schöpfer! Ich schwöre …« Er drehte sich um und wollte sich bei Horatio bedanken, aber seine Freude erlosch. »Mein Himmel, was ist denn los?«
Horatio starrte Mary böse an. Nun zwang er sich zu einem Lächeln, aber es blieb verzerrt, und er wandte den Blick nicht von ihr ab. »Nichts weiter.«
»Sind Sie nicht einverstanden?« Glessings Stimme klang gepreßt.
»Aber natürlich ist er einverstanden, oder etwa
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