Tai-Pan
warnen! Wir müssen hier unsere Flagge zeigen, ehe wir nach Norden gehen, oder wir verlieren an Gesicht. Wenn wir das Niederbrennen der Niederlassung einfach hinnehmen, sind wir in Zukunft überhaupt nie mehr sicher. Geben Sie Nemesis den Befehl, sich vor die Stadt zu legen. Ein Ultimatum von zwölf Stunden, oder Kanton wird zerstört.«
Sergejew stöhnte, und Struan trat zu ihm. Der Russe stand noch immer unter Schockwirkung und kam erst langsam zu sich.
Dann bemerkte Struan Mauss' chinesischen Konvertiten, der ihn beobachtete. Der Mann stand auf dem Hauptdeck an der Steuerbordreling. Er machte über Struan das Kreuzeszeichen, schloß die Augen und begann leise zu beten.
27
Struan sprang aus dem Beiboot auf die neue Pier in Queen's Town und eilte auf das große, fast fertiggestellte dreistöckige Gebäude zu. Er hinkte heute unter diesem hitzeglühenden, weißlichen Himmel stärker als sonst. Am Mast wehte die Flagge mit dem Löwen und dem Drachen.
Er stellte fest, daß überall im Happy Valley viele kleinere Geschäfts- und Wohngebäude nun fertig waren; auch die Arbeiten an der Kirche auf der Kuppe hatten begonnen; Brocks Pier am anderen Ende der Bucht war ebenfalls vollendet, und die angrenzende Faktorei war fast unter Dach. Aber es gab noch immer eine ganze Reihe von Gebäuden, die von hochragenden Bambusgerüsten umgeben waren. Die Queen's Road hatte eine Schotterdecke erhalten.
Es waren nur sehr wenige Kulis an der Arbeit, obwohl es noch früh am Nachmittag war. Der Tag war heiß und sehr feucht, aber ein angenehmer Ostwind strich leicht über das Tal hin.
Struan trat in die große Halle. Das Hemd klebte ihm am Rücken. Ein schwitzender portugiesischer Schreiber blickte auf und sah ihn verwundert an. »Madre de Deus, Mr. Struan! Guten Tag, Senhor. Wir haben Sie noch nicht erwartet.«
»Wo ist Mr. Robb?«
»Oben, Senhor, aber es …«
Struan rannte bereits die Treppe hinauf. Im ersten Stock führten Gänge nach Norden, Osten und Westen tiefer in das Gebäude hinein. Die zahlreichen Fenster blickten zum Teil aufs Meer, zum Teil aufs Binnenland. Die Flotte lag ruhig vor Anker. Seine Lorcha war als erste aus Kanton eingelaufen.
Er wandte sich nach Osten und ging an dem halb fertiggestellten Speisezimmer vorbei. Seine Schritte hallten auf dem nackten Steinboden. Er klopfte an eine Tür und öffnete sie.
Die Tür führte in eine geräumige Wohnung. Sie war erst halb eingerichtet: Sessel und Sofas, ein Steinfußboden und Bilder von Quance, dicke Teppiche und ein noch unbenutzter Kamin. In einem Sessel neben einem der Fenster saß Sarah, einen Fächer aus Bambusstäben in der Hand. Sie blickte ihm entgegen.
»Guten Tag, Sarah.«
»Guten Tag, Dirk.«
»Wie geht es Karen?«
»Karen ist tot.«
Sarahs hellblaue Augen waren starr, ihr Gesicht war gerötet und glänzte vor Schweiß. Das Haar hatte weiße Strähnen bekommen; sie war sichtbar gealtert.
»Das tut mir leid. Es tut mir sehr leid«, sagte er.
Sarah fächelte sich geistesabwesend. Der leichte Wind des Fächers trieb ihr eine lose Haarsträhne ins Gesicht, aber sie strich sie nicht zur Seite.
»Wann ist es geschehen?« fragte er.
»Vor drei Tagen. Vielleicht auch vor zwei«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich weiß es nicht.«
Der Fächer bewegte sich hin und her, fast wie aus eigener Kraft.
»Wie geht es dem Kleinen?«
»Noch am Leben. Lochlin ist noch am Leben.«
Struan wischte sich mit seinen Fingern einen Schweißtropfen vom Kinn. »Wir sind die ersten, die aus Kanton zurückkommen. Die Chinesen haben die Niederlassung angezündet. Wir haben Robbs Brief kurz vor unserem Aufbruch erhalten. Ich bin gerade erst angekommen.«
»Ich habe deinen Kutter an Land kommen sehen«, sagte sie.
»Wo ist Robb?« fragte er.
Sie deutete mit dem Fächer zur Tür, und er bemerkte, wie schmal ihre blaugeäderten Handgelenke waren.
Struan ging ins Schlafzimmer. Der Raum war groß; das breite Bett mit dem Baldachin auf vier Pfosten war seinem eigenen nachgebildet.
Robb lag im Bett. Er hatte die Augen geschlossen, das Gesicht lag grau und abgemagert auf dem vom Schweiß verfärbten Kissen.
»Robb?« stieß Struan leise hervor. Aber Robb machte die Augen nicht auf; nur seine Lippen waren leicht geöffnet. Struan zog sich das Herz zusammen.
Er berührte das Gesicht seines Bruders. Kalt. Die Kälte des Todes.
In der Nähe bellte ein Hund, eine Fliege surrte unermüdlich gegen das Fenster.
Struan wandte sich um, ging aus dem Zimmer und schloß leise
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