Tai-Pan
die Tür.
Sarah saß noch immer in dem Sessel mit der hohen Lehne. Langsam bewegte sich der Fächer. Hin und her. Hin und her.
Er haßte sie, weil sie es ihm nicht gesagt hatte.
»Robb ist vor einer Stunde gestorben«, erklärte sie. »Vor zwei oder drei Stunden, oder war es eine Stunde? Ich kann mich nicht erinnern. Bevor er starb, hat er mir etwas für dich aufgetragen. Eine Mitteilung. Es war heute morgen, glaube ich. Vielleicht war es auch noch in der Nacht. Ich glaube doch, es war heute morgen. Robb hat gesagt: ›Sag Dirk, ich habe niemals Tai-Pan werden wollen.‹«
»Ich werde die notwendigen Schritte unternehmen, Sarah. Es ist am besten, wenn du mit den Kindern an Bord der Resting Cloud gehst.«
»Ich habe ihm die Augen zugedrückt. Und ich habe Karens Augen zugedrückt. Wer wird dir die Augen zudrücken, Tai-Pan? Wer die meinen?«
Er gab die erforderlichen Anweisungen und ging dann die kleine Anhöhe zu seinem Haus hinauf. Dabei dachte er an jenen ersten Tag zurück, an dem Robb in Macao eingetroffen war.
»Dirk! Alle deine Nöte sind überstanden, denn ich bin da!« hatte Robb mit seinem fröhlichen Lächeln gerufen. »Jetzt werden wir die Ostindische Kompanie zerschlagen und Brock auslöschen. Wir werden wie große schottische Grundherren hier leben und eine Dynastie gründen, die Asien für alle Zeiten beherrschen wird! Ich kenne ein Mädchen, das ich heiraten werde! Sarah McGlenn. Sie ist jetzt fünfzehn, wir sind miteinander verlobt und wollen in zwei Jahren heiraten.«
Sag mir, Gott, fragte Struan, wo haben wir den falschen Weg eingeschlagen? Und wieso? Warum verändern sich Menschen? Wie können Streit und Gewalttätigkeit, Haß und Hader aus Sanftheit und Jugend, aus Zärtlichkeit und Liebe hervorgehen? Und warum? Weil es immer so gewesen ist. Auch bei Sarah. Auch bei Ronalda. Und es wird das gleiche zwischen Culum und Tess sein. Warum?
Er war inzwischen vor dem Tor in der hohen Mauer, die sein Haus umgab, angelangt. Er öffnete es und betrachtete das Haus. Alles war still – unheimlich still. Das Wort ›Malaria‹ schoß ihm durch den Kopf. Die hohen Bambushalme wogten im leichten Wind. Der Garten war jetzt mit Blumen und Sträuchern schön bepflanzt. Darüber Bienengesumm.
Er ging die Stufen hinauf und öffnete die Tür, trat jedoch nicht sofort ein, sondern blieb auf der Schwelle stehen und lauschte. Kein Lachen zur Begrüßung, kein gedämpftes Geschwätz der Bediensteten, kein Gemurmel hoher, singender Stimmen. Das Haus wirkte wie ausgestorben. Er warf einen Blick auf das Barometer: Es zeigte schönes Wetter an.
Langsam schritt er den Flur entlang, die Luft war von dem eigentümlichen Duft nach Räucherwerk geschwängert. Er bemerkte Staub, wo früher keiner gelegen hatte.
Er öffnete die Tür zu May-mays Schlafzimmer. Das Bett war gemacht, das Zimmer wirkte ungewöhnlich ordentlich und aufgeräumt.
Das Kinderzimmer war leer. Keine Kinderbettchen, kein Spielzeug.
Dann erblickte er sie durch das Fenster. Sie kam aus dem anderen Teil des Gartens und hielt abgeschnittene Blumen in der Hand. Ein orangefarbener Sonnenschirm beschattete ihr Gesicht. Im nächsten Augenblick stand er draußen, und sie lag in seinen Armen.
»Mein Himmel, Tai-Pan. Jetzt hast du meine Blumen zerdrückt.« May-may legte die Blumen ab und schlang ihre Arme um seinen Nacken. »Wo kommst du her, heja? Tai-Pan, du drückst mich zu fest! Bitte. Warum ist dein Gesicht so seltsam?«
Er hob sie hoch und setzte sich mit ihr auf eine Bank in der Sonne. Zufrieden schmiegte sie sich in seine Arme, von seiner Kraft beruhigt, von seiner Erleichterung darüber, sie zu sehen.
Sie lächelte zu ihm auf. »So. Du hast mich phantastisch vermißt, heja?«
»Ich habe dich phantastisch vermißt, heja.«
»Gut. Warum du unglücklich? Und warum bist du, wenn ich dich sehe, wie vergespenstet?«
»Sorgen, May-may. Außerdem hatte ich geglaubt, ich hätte dich verloren. Wo sind die Kinder?«
»In Macao. Ich habe sie in Haus von Tschen Scheng geschickt, in die Obhut von Älterer Schwester. Als Fieberkrankheit begann, habe ich es für erschrecklich klug gehalten. Ich habe sie mit Mary Sinclair geschickt. Warum glaubst du, du hast mich verloren, heja?«
»Nichts weiter. Wann sind die Kinder abgereist?«
»Vor einer Woche. Mary wollte auf sie aufpassen, ganz sicher. Sie kommt morgen zurück.«
»Wo sind Ah Sam und Lim Din?«
»Ich habe sie weggeschickt, Essen besorgen. Als wir unsere Lorcha entdecken, denke ich, ajiii jah, das
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