Tai-Pan
»Wir gehen jetzt den Damen Gesellschaft leisten.«
»Wie bald, Tyler?«
»Sie haben doch gehört, was Vater gesagt hat«, entgegnete Gorth gereizt. »Warum ihm denn so im Nacken sitzen?«
Struan aber beachtete ihn nicht und sah Tyler unverwandt an.
Culum fürchtete, es könnte zu einem Streit oder sogar zu einem Kampf kommen, und das würde Brocks Einstellung zu dieser Heirat überhaupt von Grund auf ändern. Gleichzeitig aber lag auch ihm daran, zu erfahren, wie lange er würde warten müssen, und daher war er froh, daß Struan Brock zusetzte. »Bitte«, sagte er trotzdem, »ich bin überzeugt davon, daß Mr. Brock … eingehend über diese Frage nachdenken wird. Lassen wir das also jetzt.«
»Was du tun willst, ist deine eigene Angelegenheit, Culum!« rief Struan und tat so, als sei er wütend. »Aber ich will es jetzt wissen. Ich will wissen, ob du hier ausgenutzt wirst und ob man hier mit dir Katz und Maus spielt.«
»Wie kannst du so etwas sagen!« stieß Culum hervor.
»Schon gut. Dir habe ich im Augenblick nichts mehr zu sagen. Halt also den Mund.« Struan wandte sich Brock heftig wieder zu. Er fühlte, Brock und Gorth hatte es gefallen, wie er Culum zusammenstauchte.
»Wie lange also, Tyler?«
»In einer Woche. In einer Woche, nicht mehr und nicht weniger.« Brock sah zu Culum hinüber, und wieder klang seine Stimme freundlich. »Doch nichts dagegen zu sagen, sich Bedenkzeit zu erbitten, mein Junge, aber auch nichts dagegen zu sagen, eine Antwort von Mann zu Mann zu fordern. Is' ganz in Ordnung. In 'ner Woche, Dirk. Um Sie mit Ihren gottverdammt schlechten Manieren zufriedenzustellen! Genügt das?«
»Ja. Danke, Tyler.« Struan ging zur Tür und öffnete sie weit.
»Nach Ihnen, Dirk.«
In die sichere Abgeschiedenheit seiner Kajüte an Bord der Resting Cloud zurückgekehrt, berichtete Struan May-may von allem, was sich abgespielt hatte.
Sie lauschte ihm aufmerksam und hingerissen. »Wie schön, Tai-Pan. Wie sehr gut!«
Er zog seinen Gehrock aus, und sie nahm ihn ihm ab und hängte ihn in den Schrank. Dabei glitt eine Papierrolle aus dem Ärmel ihres weit fallenden Gewandes. Er hob sie auf und betrachtete sie.
Die Rolle wies ein zartes chinesisches Aquarell mit vielen Schriftzeichen auf: eine Landschaft am Meer und ein kleiner Mann, der sich vor einer kleinen Frau verbeugte; hinter ihnen stiegen gewaltige, nebelverhangene Berge auf, vor der felsigen Küste wiegte sich ein Sampan.
»Wo hast du denn das her?«
»Ah Sam hat es in Tai Ping Schan bekommen«, antwortete sie.
»Hübsch«, sagte er.
»Ja«, meinte May-may ruhig, und wieder überkam sie eine fast ängstliche Verwunderung über die Raffiniertheit ihres Großvaters. Er hatte diese Rolle einem seiner Vertrauensleute in Tai Ping Schan geschickt, bei dem May-may hin und wieder Jadeschmuck kaufte. Ah Sam hatte dieses Aquarell ohne jeden Argwohn als ein kleines Geschenk für ihre Herrin angenommen. Und obwohl May-may überzeugt davon war, daß Ah Sam und Lim Din das Bild und die Schriftzeichen sehr genau betrachtet hatten, wußte sie doch, daß sie niemals auf den Gedanken verfallen würden, sie könnten eine geheime Botschaft enthalten. Dazu war alles viel zu geschickt verborgen. Sogar der Familienstempel ihres Großvaters war von einem anderen überdeckt. Auch die paar Zeilen waren ganz einfach und sehr schön: ›Sechs Nester lächeln den Adlern zu, Grünfeuer durchzieht den Sonnenaufgang, und der Pfeil kündigt Nestlinge der Hoffnung an.‹ Wer außer ihr hätte erraten können, daß er ihr für ihre Nachrichten bezüglich der sechs Millionen Taels dankte? Daß mit ›Grünfeuer‹ der Tai-Pan gemeint war und daß er ihr einen Boten senden wollte, der eine Art Pfeil als Erkennungszeichen vorweisen und ihr in jeder nur denkbaren Weise helfen würde.
»Was haben die Schriftzeichen zu bedeuten?« fragte Struan.
»Schwierig zu übersprechen, Tai-Pan. Ich habe nicht alle Wörter entziffert, aber es bedeutet ungefähr: ›Sechs Vogelhäuser lächeln großen Vögeln zu, grünes Feuer ist im Sonnenaufgang, Pfeil bringt‹« – sie furchte die Stirn und suchte nach den englischen Wörtern – »›bringt kleine Hoffnungsvögel.‹«
»Was für ein dummes Zeug, wahrhaftig!« Struan lachte auf.
Sie seufzte glücklich. »Ich vergöttere dich, Tai-Pan.«
»Ich vergöttere dich auch, May-may.«
»Das nächstemal, wenn wir bauen unser Haus, erst fêng schui-Herrens, bitte?«
30
Bei Sonnenaufgang begab sich Struan an Bord der Calcutta
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