Tai-Pan
»Danke. Entschuldigen Sie, aber ich bin … ich bin wohl etwas müde. Mein Vater hat mir aufgetragen, sehr vorsichtig zu sein – mich eines Pseudonyms zu bedienen. Nur mit Ihnen zu sprechen – oder für den Fall Ihres Todes mit Robb Struan.« Er öffnete sein Hemd und knüpfte einen Beutel auf, den er um den Leib gebunden trug. »Dies sendet er Ihnen.« Er reichte Struan einen verschmutzten, mit vielen Siegeln versehenen Umschlag und setzte sich wieder.
Struan nahm den Umschlag entgegen. Er war an ihn adressiert und in London am 29. April datiert. Jäh blickte er auf und stieß mit heiserer Stimme hervor: »Ein Lügner sind Sie! Es ist unmöglich, daß Sie in so kurzer Zeit haben hierher gelangen können. In sechzig Tagen!«
»Ganz richtig, Sir«, antwortete Crosse lebhaft. »Ich habe das Unmögliche geschafft.« Er lachte nervös auf. »Mein Vater wird es mir vielleicht kaum verzeihen.«
»Niemand hat jemals diese Strecke in sechzig Tagen zurückgelegt. Sie wollen mich wohl zum besten halten?«
»Ich bin Dienstag, den 29. April, abgereist. Postkutsche von London nach Dover. Um Haaresbreite hätte ich das Postschiff nach Calais verfehlt. Postkutsche nach Paris und weiter nach Marseille. Mit Müh und Not das französische Postschiff nach Alexandria erwischt. Über Land nach Suez, und zwar dank der gütigen Vermittlung von Mehmed Ali – dem mein Vater einmal begegnet ist –, dann weiter nach Bombay mit dem Postschiff, auch wieder nur um eine Nasenlänge geschafft. In Bombay habe ich drei Tage lang stillgelegen und hatte dann ein Mordsglück. Ich konnte eine Passage auf einem Opiumklipper nach Kalkutta buchen. Dann …«
»Was für ein Klipper?«
»Die Flying Witch, gehört Brock and Sons.«
»Erzählen Sie weiter«, sagte Struan und zog die Augenbrauen hoch.
»Mit einem Ostindienfahrer – der Bombay Prince – bis nach Singapur. Dann hatte ich Pech, wochenlang kein Schiff, das nach Hongkong bestimmt war. Und nochmals unwahrscheinliches Glück. Ich habe so lange geredet, bis mich ein russisches Schiff an Bord genommen hat – dies da drüben«, sagte Crosse und deutete zu den Heckfenstern hinaus. »Das war das gefährlichste Risiko, das ich überhaupt eingegangen bin, aber es war meine einzige Chance. Ich habe dem Kapitän meine letzte Guinee gegeben. Im voraus. Ich glaubte, die Leute würden mich mit Bestimmtheit auf hoher See über Bord hieven, aber es war nun einmal meine einzige Chance. Neunundfünfzig Tage, Sir, so wahr ich hier sitze – von London bis Hongkong.«
Struan stand auf, schenkte Crosse noch etwas zu trinken ein und nahm sich selber ein großes Glas. Tja, möglich ist es, dachte er. Zwar unwahrscheinlich, jedoch möglich. »Wissen Sie, was in dem Brief steht?«
»Nein, Sir. Zumindest kenne ich nur den Teil, der sich auf mich persönlich bezieht.«
»Und das wäre?«
»Mein Vater behauptet von mir, ich sei ein Verschwender, ein Nichtstuer, ein Spieler und Pferdenarr«, erklärte Crosse mit entwaffnender Offenheit. »Vom Newgate-Gefängnis soll ein Haftbefehl wegen Schulden gegen mich ausgestellt sein. Er empfiehlt mich Ihrer Großmut an und hofft, Sie würden Verwendung für meine ›Fähigkeiten‹ finden – die Hauptsache ist, mich England und ihm für den Rest seines Lebens fernzuhalten. Und er erläutert die Einzelheiten der Wette.«
»Welcher Wette?«
»Ich bin gestern eingetroffen, Sir. Am 28. Juni. Ihr Sohn und viele andere sind Zeugen. Aber vielleicht sollten Sie zunächst den Brief lesen, Sir. Ich kann Ihnen versichern, daß mein Vater niemals mit mir gewettet hätte, wenn es sich nicht um eine Nachricht von ›höchster Wichtigkeit‹ handeln würde.«
Struan betrachtete noch einmal prüfend die Siegel und erbrach sie dann. Das Schreiben lautete: »Westminster, 28. April 1841, 11 Uhr abends. Mein lieber Mr. Struan! Ich habe soeben insgeheim Kenntnis von einem Schreiben des Außenministers, Lord Cunnington, erhalten, das er gestern dem ehrenwerten William Longstaff, Generalbevollmächtigten Ihrer Majestät in Asien, gesandt hat. In diesem Schreiben heißt es unter anderem: ›Sie haben meine Anweisungen nicht befolgt und mißachtet und scheinen Sie als null und nichtig zu betrachten. Offensichtlich scheinen Sie entschlossen, die Angelegenheiten der Regierung Ihrer Majestät nach eigenem Ermessen zu behandeln. Sie haben sich in ungebührlicher Weise über jene Anweisungen hinweggesetzt, nach denen fünf oder sechs chinesische Häfen auf dem Festland den britischen
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