Tai-Pan
und kein größerer Krieg zu befürchten – seit Hunderten von Jahren hatte es so etwas nicht mehr gegeben. Der Teufel Bonaparte endlich tot und das gewalttätige Frankreich glücklich in seine Schranken verwiesen. Zum erstenmal, daß Britannien eine weltbeherrschende Stellung innehatte. Die Sklaverei seit acht Jahren abgeschafft. Kanäle, eine neue Transportmöglichkeit, Zollstraßen mit unerhört glatter, dauerhafter Straßendecke, Fabriken, Industrien, mechanische Webstühle, Massenproduktion, Eisen, Kohle und Aktiengesellschaften und so viele andere neue Dinge innerhalb der letzten zehn Jahre: die Pennypost, die erste billige Postbeförderung auf der Welt, die erste Polizeitruppe der Welt, ein Dampfhammer, eine Arbeiterschutzgesetzgebung und ein Parlament, das zum erstenmal nicht mehr von wenigen aristokratischen Grundbesitzern beherrscht wurde, so daß jetzt, so unglaublich es klang, jeder Mann in England, der ein Haus besaß, dessen Wert einer Rendite von zwanzig Pfund im Jahr entsprach, wählen durfte, tatsächlich wählen durfte und es sogar zum Premierminister bringen konnte. Und die unglaubliche industrielle Revolution, der phantastische Reichtum Britanniens, der überall hinfloß. Neue Vorstellungen vom Staat und von der Menschheit, die jahrhundertealte Schranken niederrissen. Und nun auch noch die Lokomotive!
»Das ist eine Erfindung, die die Welt umkrempeln wird«, murmelte er.
»Was hast du gesagt, Vater?« fragte Culum.
Struan kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Ich habe nur eben an unsere erste Fahrt mit der Eisenbahn gedacht«, antwortete er aus dem Stegreif.
»Sind Sie schon mal mit der Eisenbahn gefahren, Sir?« fragte McKay. »Wie ist das? Wann war es?«
»Wir haben die Jungfernfahrt von Stephensons Lokomotive mitgemacht«, antwortete Culum, »der Rocket. Ich war damals zwölf Jahre alt.«
»Nein, mein Junge«, warf Struan ein, »du warst elf. Es war 1830. Vor elf Jahren. Es war die Jungfernfahrt der Rocket mit dem ersten Personenzug der Welt. Von Manchester nach Liverpool. Eine Tagereise mit der Kutsche, aber wir legten die Strecke in eineinhalb Stunden zurück.« Und wieder begann Struan über das Schicksal von Noble House nachzugrübeln. Dann fiel ihm sein Auftrag an Robb ein, so viel Geld, wie sie nur bekommen konnten, zu leihen, um Opium aufzukaufen.
Überlegen wir mal – wir könnten dabei einen Gewinn von fünfzig- oder hunderttausend Pfund einstreichen. Hm, das ist nur ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein. Die drei Millionen, die man uns für das gestohlene Opium schuldet. Aber die können wir erst bekommen, wenn der Friedensvertrag unterzeichnet ist – also in sechs bis neun Monaten –, und in der Frist von drei Monaten müssen wir unsere Wechsel einlösen.
Wo kriegen wir Bargeld her? Wir haben eine starke Stellung und einen guten Ruf. Nur daß Schakale uns auf den Fersen sind, denen schon das Wasser im Maul zusammenläuft. Brock ist einer von ihnen. Cooper-Tillman gehören auch dazu. Hat etwa Brock den Sturm auf die Bank ausgelöst? Oder war es Morgan, sein Sohn? Die Brocks haben genügend Macht und genügend Geld. Bargeld ist es, was wir brauchen. Oder einen grenzenlosen Kredit. Und dazu Bargeld, keine Papiere. Wir sind bankrott, wenn sich unsere Gläubiger auf uns stürzen.
Er fühlte die Hand seines Sohnes auf seinem Arm. »Was hast du eben gesagt, mein Junge? Hast du Rocket gesagt?«
Culum war von Struans Blässe und dem harten, funkelnden Grün seiner Augen beunruhigt. »Das Flaggschiff. Wir sind da.«
Culum folgte seinem Vater an Deck. Er war noch niemals an Bord eines Kriegsschiffes gewesen, geschweige an Bord eines solchen Linienschiffs. H.M.S. Titan war riesig – ein Dreimaster –, mit vierundsiebzig Kanonen auf drei Batteriedecks. Aber auf Culum machte das keinen Eindruck. Schiffe waren ihm gleichgültig, und er haßte die See. Er fürchtete ihre Gewalt, ihre Gefährlichkeit und ihre ungeheure Ausdehnung. Außerdem konnte er nicht schwimmen. Es war ihm unverständlich, wie sein Vater die See lieben konnte.
Es gibt so vieles bei meinem Vater, wovon ich nichts weiß, dachte er. Aber das ist schließlich nicht ungewöhnlich. Ich habe ihn ja nur ein paarmal in meinem Leben gesehen, das letztemal vor sechs Jahren. Vater hat sich nicht verändert, aber ich. Jetzt weiß ich auch, wie ich mir mein Leben einrichten werde. Und jetzt, wo ich allein übriggeblieben bin … ich bin gern allein und bin's auch wieder nicht.
Er folgte seinem Vater den Niedergang
Weitere Kostenlose Bücher