Tai-Pan
versuchte, steif und erschöpft neben dem Fenster in der Wand Wache haltend, eine andere Stellung einzunehmen. May-may hatte sich im Schlaf zusammengerollt, und Ah Gip schlummerte an eine verschimmelte Kiste gelehnt. Vor ein paar Stunden war er für einen Augenblick eingeschlafen, aber seine Träume waren seltsam und vermischten sich mit der Wirklichkeit. Er war an Bord der China Cloud gewesen und lag erdrückt unter einer Ladung Silberbarren. Jin-kwa hatte den Raum betreten, das Silber von ihm weggerückt und das Ganze im Austausch für einen Sarg und zwanzig goldene Guineen an sich genommen. Und dann war er nicht mehr auf seinem Schiff, sondern befand sich in dem Großen Haus auf dem Hügel. Winifred brachte ihm drei Eier, er frühstückte, und May-may hatte hinter ihm gesagt: »Allmächtiger, wie kannst du die ungeborenen Kinder einer Henne essen?« Er hatte sich zu ihr umgedreht und gesehen, daß sie keine Kleider trug und schmerzlich schön war. Winifred hatte gesagt: »War Mutter ohne Kleider ebenso schön?« Und er hatte geantwortet: »Ja, aber in anderer Weise«, und da war er plötzlich erwacht.
Der Traum von seiner Familie hatte ihn traurig gemacht. Ich muß bald nach Hause reisen, hatte er gedacht. Ich weiß nicht einmal, wo sie begraben sind.
Er streckte sich, beobachtete die Bewegungen auf dem Fluß und dachte an Ronalda und May-may. Sie sind verschieden, sehr verschieden. Ich habe sie beide gleich stark geliebt. Ronalda hätte es in London gefallen; es hätte ihr Spaß gemacht, ein großes Haus dort zu führen und in der Saison zur Kur nach Brighton oder Bath zu fahren. Sie wäre bei all den großen Essen und Bällen eine vollkommene Gastgeberin gewesen. Aber jetzt bin ich allein.
Werde ich May-may mit mir nach Hause nehmen? Vielleicht. Als Tai-tai? Unmöglich. Denn das würde mich aus dem Kreis der Leute ausschließen, deren ich mich bedienen muß.
Er unterbrach seine Grübeleien und konzentrierte sich auf den Platz, der jetzt verlassen dalag. Kurz vor Anbruch der Nacht waren die Bannermänner abgezogen. Nur verschwommene Schatten im blassen Mondlicht waren dort zu erkennen, und diese Leere erschien Struan unheimlich und schauerlich.
Er sehnte sich nach Schlaf. Du darfst jetzt nicht schlafen, sagte er sich. Mein Gott, aber ich bin so schrecklich müde.
Er stand auf und streckte sich, ließ sich dann aber wieder nieder. Die Uhr schlug Viertel und halb, und er beschloß, May-may und Ah Gip in einer Viertelstunde zu wecken. Es eilt nicht, dachte er. Er zwang sich, nicht darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn Jin-kwas Lorcha nicht einträfe. Seine Finger berührten die vier halben Münzen in seiner Tasche, und wieder machte er sich Gedanken über Jin-kwa. Was für Gefälligkeiten und wann?
Zum Teil verstand er jetzt Jin-kwas Motive. Die Ungnade, in die Ti-sen gefallen war, ließ sie klarer hervortreten. Offensichtlich kam es zum Krieg. Es war klar, daß die Briten ihn gewinnen würden. Ebenso klar war es, daß der Handel wieder aufleben würde. Aber auf keinen Fall im Rahmen der Acht Verordnungen. Der Co-hong würde also seine Monopolstellung verlieren und jeder auf sich selbst gestellt sein. Daher auch die Zeitspanne von dreißig Jahren in ihrer Geschäftsverbindung: Jin-kwa hatte ganz einfach diese geschäftliche Verbindung für die nächsten drei Jahrzehnte sichern wollen. Das entsprach der Mentalität der Chinesen, dachte er: sich nicht um den unmittelbaren Gewinn zu sorgen, sehr wohl aber um den in fernerer Zukunft.
Was aber geht wirklich in Jin-kwas Kopf vor? Warum will er Land in Hongkong erwerben? Warum einen Sohn nach Art der ›Barbaren‹ ausbilden und mit welchem Ziel? Und worin werden die vier Gefälligkeiten bestehen? Und wie wirst du sie ausführen, nachdem du dich auf sie eingelassen und Zusicherungen gemacht hast? Wie wirst du außerdem gewährleisten, daß Robb und Culum diese Abmachung erfüllen?
Struan begann über diesen Teil der Angelegenheit nachzudenken. Er erwog ein Dutzend Möglichkeiten, bevor er zu einer Lösung gelangte. Nun wußte er, was er zu tun hatte, aber es widerstrebte ihm. Nachdem er aber seinen Entschluß gefaßt hatte, wandte er seine Gedanken anderen Problemen zu.
Und was sollte er Brock gegenüber unternehmen? Und Gorth? Auf dem Landeplatz war er einen Augenblick versucht gewesen, sich auf Gorth zu stürzen. Wenn noch ein Wort gefallen wäre – er hätte ihn vor aller Augen herausfordern müssen. Sein Ehrgefühl hätte ihn dazu gezwungen –
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