Taken
Geduldsfaden.
»Ich muss etwas unternehmen, Emma«, sage ich. »Ich kann nicht mehr hier herumsitzen und hoffen, dass mir die Antworten auf meine Fragen in den Schoß fallen.«
»Was könntest du denn tun?«
»Keine Ahnung. Blaine suchen. Die Wahrheit herausfinden.«
»Was meinst du mit ›Blaine suchen‹?«
»Als ich die letzten paar Male im Wald war, da war ich so nahe daran, über die Mauer zu klettern und nach ihm zu suchen.« Ich halte die Hände in die Höhe und zeige einen Abstand von ein, zwei Zentimetern.
»Ihn suchen? Was gibt es denn da zu suchen? Es ist ja nicht, als hätte er zum Vergnügen einen Spaziergang hinter die Mauer unternommen. Er ist geraubt worden.«
»Aber das ist es ja gerade, Emma. Wenn man über die Mauer klettert, wird man von irgendetwas umgebracht, also muss es auf der anderen Seite noch etwas geben. Es muss mehr existieren als nur Claysoot.«
»Du wirst sterben, Gray, wie alle anderen«, sagt sie.
»Vielleicht auch nicht. Schließlich habe ich den Raub überlebt. Vielleicht überstehe ich auch die Mauer.«
»Versprich mir, dass du das nicht tust, Gray. Bitte. Ich verstehe, was du meinst; dieses Gefühl, dass es noch mehr geben muss, eine Erklärung. Ich spüre es jedes Mal, wenn ich über diese ursprünglichen Kinder nachdenke. Aber über was du redest, ist verrückt. Es ist Selbstmord.«
»Aber was, wenn es wirklich noch mehr gibt, Emma? Was, wenn wir nur über die Mauer zu klettern brauchen und stattdessen unser ganzes Leben hier verbringen, weil wir Angst davor haben, es zu versuchen?«
Sie steht auf und geht um den Tisch herum. Ehe ich mich versehe, hat sie sich auf meinen Schoß gequetscht, sodass ihr Rücken sich dem Spielbrett zuwendet und ihr Gesicht direkt vor meinem schwebt. Sie mustert mich und streicht mir das Haar aus den Augen. Sie sagt nichts, aber ich konzentriere mich so stark auf ihre Hände, dass es mir nichts ausmacht. Jetzt fährt sie meine Gesichtskonturen nach und streift mit den Fingerspitzen über mein Kinn. Und dann, ganz langsam, kommt sie näher und küsst mich. Sie weiß genau, was sie tun muss, um mich auf ihre Seite zu ziehen und ihrem Willen zu unterwerfen. Ich schmiege mich an sie, und jeder Zentimeter meines Körpers erwacht zum Leben.
Ihre Lippen sind weich, aber trocken, und ihre Haare riechen nach der Seife vom Markt. Ich erwidere ihren Kuss, und meine Hände finden die Biegung ihres Rückens. Ich stehe kurz davor, sie hochzuheben und ins Schlafzimmer zu tragen, als sie mit den flachen Händen gegen meine Brust drückt. Ich öffne die Augen und sehe in ihre fragende Miene.
»Versprich es mir«, verlangt sie. »Versprich mir, dass du nichts Dummes anstellen wirst.«
»Du weißt, dass ich dir so etwas nicht versprechen kann, Emma. Ich mache ständig Dummheiten. Blaine ist derjenige von uns, der nachdenkt.«
»Ich bin nicht an Blaine interessiert, sondern an dir.«
»Schön, ich kann dir Folgendes versprechen: Wenn ich kurz davor stehe, etwas Dummes anzustellen, dann erfährst du es als Erste, bevor ich es tue.«
»Immer angenommen, du merkst überhaupt, dass es eine Dummheit ist.«
»Ja, mit dieser Einschränkung.«
Ich küsse sie noch einmal. Zum zweiten Mal gleiten meine Hände zu ihrem Rücken, aber als ich beginne, sie hochzuheben, klettert sie kichernd von meinem Schoß. Sie setzt den Teekessel auf und lächelt mir über die Schulter zu. Ich verstehe nicht, wie sie so ruhig bleiben kann. Meine Brust hebt und senkt sich immer noch heftig, und mein Körper ist wie elektrisch aufgeladen.
»Weißt du, vielleicht übertreibst du das Ganze«, meint sie. »Vielleicht hat deine Ma wirklich damals Zwillinge geboren, aber der Jüngere ist gestorben oder so. Und dann, ein Jahr später, bist du auf die Welt gekommen, und sie hat dich zu seinem Gedenken nach ihm benannt. Du könntest wirklich ein Jahr jünger sein als Blaine.«
»Aber der Tod eines Kindes wäre in der Rolle meiner Mutter festgehalten. Und ich wäre als drittes aufgeführt.«
»Oder die Schriftrollen sind unvollständig«, entgegnet sie. »Das war schließlich die Ausrede, die du mir genannt hast, als wir damals über die Gründung von Claysoot gesprochen haben.«
Ich sehe sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Das ist etwas anderes.«
»In welcher Hinsicht?«
»Keine Ahnung. Ist einfach so.«
»Vielleicht solltest du mit Maude reden, Gray. Wenn es überhaupt Antworten auf deine Fragen gibt, dann hat sie sie.«
»Und was, ihr gestehen, dass wir im Krankenhaus
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