Taken
meinen Arm von ihr los. »Ich kann hier nicht bleiben. Ich kann einfach nicht.«
Ich finde die Tür und stolpere in den Regen hinaus.
»Warte!«, ruft sie, aber ich gehorche ihr nicht. Als ich durch die überschwemmten Straßen renne, ruft sie mir etwas hinterher. Ich verstehe sie nicht richtig, aber es klingt wie »bleib« und »bitte«.
Ich laufe direkt zu Emmas Haus und hämmere an die Tür, denn ich habe versprochen, ihr Bescheid zu sagen, falls ich auf dumme Ideen komme. Und das hier fühlt sich zwar nicht wirklich töricht an, aber ich weiß, dass es gefährlich ist. Doch ich habe keine andere Wahl. Meine einzige Hoffnung darauf, die Wahrheit zu erfahren, liegt jetzt außerhalb von Claysoot.
»Gray«, sagt Emma, als sie die Tür öffnet. »Es ist mitten in der Nacht. Geht es dir gut?«
»Ich muss mit dir reden.«
»Okay«, meint sie gähnend. »Komm herein.«
»Nein, ich muss richtig mit dir reden.« Ich spreche langsam und betont, aber sie sieht mich nur verständnislos an. »Komm her«, brumme ich, fasse Emmas Arm und ziehe sie nach draußen, damit unser Gespräch Carter nicht weckt.
»Autsch, Gray. Was ist bloß mit dir los?«
»Ich muss fort.«
Verwirrt schaut sie mich an. »Fort? Warum musst du fort? Wohin gehst du?«
Ich erzähle ihr von Maude, von dem blauen Licht, das aus ihrem Zimmer gedrungen ist. Ich gestehe ihr, dass Maude für mich zu einem weiteren Rätsel, wie der Raub und die Mauer, geworden ist, so unnatürlich, dass ich ihr nicht trauen kann.
»Bitte geh nach Hause und schlaf darüber. Wir können morgen früh reden«, sagt Emma. »Du kannst ja nicht klar denken.«
»Morgen werde ich genauso empfinden. Ich kann nicht mehr bleiben, Emma. Alles ist verkehrt, und ich brauche eine Erklärung. Wenn sie in Form meines Todes jenseits der Mauer kommt, dann weiß ich wenigstens ganz genau, dass außerhalb dieses Ortes nichts existiert.«
»Ich begreife nicht, warum du das tust.« Inzwischen ist sie den Tränen nahe.
Ich mustere sie genau, jede Einzelheit. Die Art, wie ihre großen Augen sich in den Winkeln zusammenziehen, die Position des Leberflecks auf ihrer Wange. Ich möchte mich daran erinnern, denn ich sehe das alles zum letzten Mal. Noch ein letztes Mal.
»Du brauchst es nicht zu verstehen«, sage ich. »Ich tue das für mich, weil ich halt solche Dinge tue. Darüber haben wir bei unserem allerersten Ausflug an den See gesprochen. Ich denke an mich, an meine Bedürfnisse, und handle danach. Und ich muss die Wahrheit wissen, die volle Wahrheit, und ich werde sie erfahren. Ich kann nicht mein ganzes Leben in Unwissenheit verbringen.«
»Bitte, Gray. Bitte sei nicht so egoistisch.« Verzweifelt ergreift sie meine Hand.
»Ich muss«, gebe ich zurück. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich wahr ist. Es fühlt sich aber so an. Jede Faser meines Körpers schreit, dass dies der einzige Weg ist, und mehr brauche ich nicht. Diese Gefühle haben mir immer ausgereicht, um meine Handlungen zu rechtfertigen.
»Gray?«, flüstert sie.
»Wenn ich den Raub überlebt habe, wer sagt, dass ich die Mauer nicht überleben kann? Ich komme wieder. Nachdem ich ein paar Antworten gefunden habe. Versprochen.« Und dann umfasse ich ihr Gesicht und küsse sie, ehe sie Einwände erheben kann. Sie erwidert meinen Kuss und hält dabei meinen Nacken fest umfasst. Das war klar, wenn es mir endlich gelungen ist, Emma näherzukommen, renne ich schon in die entgegengesetzte Richtung davon. Ich löse mich von ihr, bevor sie mit ihren Lippen meine Meinung ändern kann. Sie bleibt allein stehen. Während ich nach Hause renne, weht ihr Nachthemd um ihre Unterschenkel.
Ich packe Nahrung und Wasser in mein Bündel. Suche Bogen und Pfeile zusammen. Dabei brauche ich nicht nachzudenken, es ist, als hätte sich mein Körper mein ganzes Leben lang auf diesen Moment vorbereitet. Ich bin ruhig und spüre keinerlei Nervosität. Ich fühle nichts – nichts, außer dem warmen Regen, der auf meine Haut rieselt, als ich mit einer Fackel in der Hand mein Haus verlasse.
Ruhig und dunkel liegt der Anfang des Pfads vor mir. Als ich in seiner Mündung stehe, zuckt ein Blitz über den Himmel und beleuchtet den Ort, den ich hinter mir lasse. Ich halte die Fackel über den Kopf und bewundere ihn zum letzten Mal. Die Flammen knistern im Nieselregen. Und dann schultere ich mein Bündel und breche, ohne noch einmal zurückzublicken, nach Norden auf.
ZWEITER TEIL
Die Mauer
10. Kapitel
Ich habe mich in den Wäldern noch nie
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