Taken
Und der von Blaine?«
»Ich sehe nicht, was das bringen soll.«
»Bitte. Das hier kann doch nicht alles sein.«
Emma seufzt, tritt aber wieder an das Regal und zieht zwei weitere Rollen heraus. In den Aufzeichnungen über Blaine stehen nur zwei Daten: seine Geburt, wie in der Rolle unserer Mutter, und sein Raub. In meiner Rolle steht ebenfalls mein Geburtsdatum – auf den Tag genau ein Jahr später als Blaine –, aber noch Dutzende weiterer Einträge. Allein die ersten dreizehn dokumentieren Hausbesuche aus der Zeit, als ich ein kränkliches, schwaches Kleinkind war. Ich lese die späteren Notizen durch, die meine weniger lange zurückliegenden Besuche im Krankenhaus aufgrund von Jagdverletzungen und Unfällen aufzeichnen, und denke gerade darüber nach, was für ein gesundes Kind Blaine im Vergleich zu mir war. Da unterbricht Emma meinen Gedankengang.
»Gray?« Ich blicke auf und sehe, dass sie an Carters Schreibtisch sitzt. »Das hier solltest du dir ansehen.«
»Was ist das?«
»Nun, du hast etwas darüber gesagt, Aufzeichnungen zu vergleichen, und ich dachte, dass ich vielleicht ein paar persönliche Notizen meiner Mutter überprüfen sollte.«
»Sie führt persönliche Aufzeichnungen?«
»Ihr Notizbuch für die Hausbesuche.« Sie hält ein ledergebundenes Buch hoch, auf dessen Einband Jahr 29 steht. »Sie nimmt sie mit, zeichnet alle nötigen Informationen auf und kopiert sie später in die Schriftrollen. So wird nichts vergessen oder ausgelassen, wenn sie an einem Tag, an dem viel los ist, mehrere Besuche macht, bevor sie ins Krankenhaus zurückkehrt.«
»Na schön, lass mich mal sehen«, sage ich.
Emma zögert und presst die Lippen zusammen, als wolle sie etwas sagen, bringe es aber nicht über sich. Sie überfliegt die Seite noch einmal und schiebt mir schließlich das Notizbuch in die ausgestreckten Hände. »Lies das.«
Behutsam nehme ich das Notizbuch, und als mein Blick auf die Worte fällt, verstehe ich plötzlich, warum Emma unsicher ist. Nicht einmal ich kann die Worte begreifen, die vor mir stehen:
Jahr 29, 23. Juni: bringt Zwillinge zur Welt (Blaine und Gray Weathersby), beide gesund
Ich stutze. Schüttle den Kopf. Das muss ein Irrtum sein. Ich lese die Zeile noch einmal und sitze dann mit dem Buch auf dem Schoß da. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wütend oder angenehm überrascht sein soll. Wenn überhaupt, fühle ich mich leer, jedenfalls im Moment. Schockiert.
Wahrscheinlich erklärt das vieles. Warum wir so gleich ausgesehen haben. Warum ich mich gefühlt habe, als wäre mir eine Hälfte meiner selbst fortgerissen worden, als er geholt wurde. Warum wir beinahe die Gedanken des anderen lesen konnten und immer wussten, was er sagen würde, noch bevor die Worte über seine Lippen kamen. Es erklärt vieles, und ich kann es beinahe akzeptieren. Beinahe. Bis auf ein kleines, winziges Detail.
»Wenn das wahr ist, Gray, dann dürftest du gar nicht hier sein«, sagt Emma. »Wenn du wirklich Blaines Zwillingsbruder wärst, wenn du tatsächlich achtzehn wärst, dann hättest du vor Wochen geraubt werden müssen. Zusammen mit ihm.«
»Ich weiß.« Das ist der Teil, der keinen Sinn ergibt, das Element, das ich nicht ergründen kann.
»Vielleicht ist die Tagebucheintragung ja falsch«, meint sie.
»Warum sollte sie falsch sein? Würde deine Mutter etwas aufschreiben, das nicht wirklich passiert ist?«
»Nein«, pflichtet sie mir bei. »Aber warum sollte sie in ihrem Notizbuch etwas aufschreiben, nur um ins Krankenhaus zurückzukehren und in Saras Rolle etwas völlig anderes zu vermerken?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Glaubst du, dass es das war, was deine Mutter Blaine in ihrem Brief sagen wollte? Dass ihr Zwillinge seid?«
Ich denke an die letzten paar Worte des Briefs, den ich praktisch auswendig kann, nachdem ich ihn wieder und wieder gelesen habe. Und daher sage ich dir jetzt Folgendes, mein Sohn: Du und dein Bruder, ihr seid nicht das, was zu glauben ich euch großgezogen habe. Gray ist …
Gray ist in Wahrheit dein Zwillingsbruder. Das muss es sein. Es passt so perfekt. Dies ist die Antwort, nach der ich gesucht habe, das Geheimnis, das mir vorenthalten worden ist. Ich akzeptiere es als Tatsache. Die Idee ergreift Besitz von mir, gräbt sich tief unter meine Haut ein und dringt bis ins Mark vor. Ich bin ein Zwilling, und ich bin immer noch hier – der einzige Junge über achtzehn, der je dem Raub entkommen ist. Aber warum? Weil mein Alter geheim gehalten wurde?
»Wir
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