Taken
herumgeschnüffelt und persönliche Aufzeichnungen gelesen haben und ich jetzt nicht begreife, warum ich nicht geholt worden bin, obwohl ich achtzehn bin?«
»Im Moment erscheint mir das weit ungefährlicher, als über die Mauer zu steigen.«
Ich ertappe mich dabei, wie ich ihr welliges Haar anstarre, das durch die feuchte Luft außer Rand und Band geraten ist, und entscheide, dass sie das schönste Wesen ist, das ich je gesehen habe.
»Du bist so klug, Emma, weißt du das?«
Sie wird rot und schenkt den Tee ein.
Viel später, nachdem ich mich stundenlang im Bett hin und her gewälzt habe, gebe ich endgültig jeden Versuch auf, Schlaf zu finden. Ich sitze am Tisch und denke über Emmas Vorschlag nach. Vielleicht kann ich Maude die Information entlocken, ohne zuzugeben, dass ich im Krankenhaus herumgeschnüffelt habe. Ich könnte so tun, als besäße ich beide Seiten von Mas Brief, und behaupten, ich hätte dadurch erfahren, dass ich ein Zwilling bin. Bevor ich mir schlüssig werden kann, ob das eine gute oder eher eine dumme Idee ist, ziehe ich schon einen Kapuzenpullover an und trete in den Regen hinaus.
Mehrmals klopfe ich an Maudes Tür, aber sie öffnet nicht. Wahrscheinlich schläft sie, doch ich poltere noch einmal dagegen. Dieses Mal schwingt die Tür durch mein heftiges Klopfen kaum wahrnehmbar nach innen. Behutsam schiebe ich sie mit dem Fuß zurück. Die Küche ist leer, aber aus dem Schlafzimmer dringt ein schwaches, flackerndes Licht, das den Raum in ein unheimliches blaues Glühen taucht.
»Hallo?« Vor allem, um aus dem Regen herauszukommen, trete ich ein. »Maude?«
Immer noch keine Antwort.
Vorsichtig bewege ich mich durch die Küche, und da höre ich es: gedämpfte Stimmen aus dem Schlafzimmer.
»Sonst noch Vorkommnisse?« Es ist die Stimme eines Mannes und so leise, dass ich sie kaum hören kann.
»Nichts Ungewöhnliches«, sagt Maude.
Ich spähe am Türrahmen vorbei und sehe, dass Maude mir den Rücken zudreht. Sie wendet sich einem merkwürdig leuchtenden Teil ihrer Schlafzimmerwand zu. Ich beuge mich vor, um festzustellen, mit wem sie spricht, aber dann setze ich den Fuß auf eine lose Bodendiele, die unter meinem Gewicht knarrt.
Maude fährt herum, und als sie mich sieht, zieht sie die Augen zusammen. Schnell steht sie auf, viel schneller, als ich es je bei ihr erlebt habe, und schließt den Schrank, aus dem das Licht dringt. Ich trete zurück und will schon aus der Tür huschen. Aber sie kommt direkt auf mich zu, und ich weiß, dass Flucht keinen Sinn hat.
»Was hast du hier zu suchen?«, keucht sie und tritt, auf ihren Stock gestützt, in die Küche. Sie wirkt nicht zornig, sondern ängstlich.
»Ich wollte mit Ihnen reden. Ich habe eine Frage.« Ich mustere den Raum hinter ihr. »Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Mit niemandem«, gibt sie zurück. »Ich war dabei, meine Notizen für das morgige Treffen mit den Ratsführern vorzubereiten, und manchmal gehe ich sie laut durch.«
»Aber ich habe eine Männerstimme gehört.« Wieder recke ich den Kopf, sehe an ihr vorbei und lasse den Blick durchs Schlafzimmer schweifen.
»Du hast nichts dergleichen gehört«, gibt sie scharf zurück.
Aber das habe ich. Ich weiß, was ich gesehen und gehört habe. Mit einem Mal vertraue ich ihr nicht mehr. Maude, die unser Volk immer zu leiten schien, uns den Weg gezeigt hat. Sie ist zu einem weiteren Element geworden, das sich unnatürlich anfühlt. Und es ist so schnell geschehen.
»Ich gehe«, sage ich zu ihr.
»Gut. Es gehört sich nicht, in anderer Leute Häuser einzudringen.«
»Nein, ich verlasse nicht nur Ihr Haus«, erkläre ich. »Claysoot. Ich verlasse Claysoot.«
»Überstürze nichts. Du weißt, dass auf der anderen Seite der Mauer nichts existiert.«
»Ich überstürze nichts. Aber ich traue Ihnen nicht. Ich traue diesem Ort nicht. So vieles daran stimmt nicht, und wenn ich hier keine Antworten auf meine Fragen finde, dann suche ich sie eben anderswo.« Ich weiche vor ihr zurück und taste mich zur Tür vor, aber sie packt meinen Arm. Dafür, dass ihre Hände so gebrechlich wirken, ist ihr Griff erstaunlich kräftig.
»Sei nicht töricht, Gray«, sagt sie bedächtig. »Du wirst jenseits der Mauer keine Antworten finden, weil du tot sein wirst.«
»Aber ich bin achtzehn! Das könnte alles verändern.«
Maudes Finger schließen sich fester um mein Handgelenk. »Achtzehn? Wovon redest du? Hast du den Verstand verloren?«
»Wir waren … sind Zwillinge«, sage ich und reiße
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