Taken
Windstoß weht noch einmal einen Rauchschwaden heran. Zu meiner Rechten höre ich etwas rascheln. Es kommt näher. Ich lasse die Fackel fallen, spanne meinen Bogen und ziele ins Unbekannte. Das ist das Ende, es kommt auf mich zu. Das hier hat die anderen getötet.
Eine Gestalt löst sich aus den Schatten, und das Herz rutscht mir in die Knie. Nichts könnte schlimmer und furchteinflößender sein als dieser Anblick. Emma ist mir über die Mauer gefolgt.
11. Kapitel
Ich bücke mich, um die Fackel aufzuheben, bevor sie im feuchten Gras verlischt. Dann stehe ich mit offenem Mund da. Emma nutzt mein Schweigen und rennt auf mich zu. Sie trägt Hosen und eine stabile Jacke. Auf den Rücken hat sie ein Bündel geschnallt. Sie hat das offensichtlich geplant und ist mir aus eigenem Antrieb gefolgt.
Sie schlingt mir die Arme um den Hals. Ich drücke sie an mich und küsse ihr Haar, das vom Regen ganz nass ist. Sie sagt etwas, aber ihre Worte klingen gedämpft, weil sie das Gesicht an meine Brust presst. Und dann verfliegt der erste Schock darüber, dass sie da ist. Ich erkenne, was sie da getan hat. Ich fasse sie an den Schultern und schiebe sie weg.
»Was soll das?«, verlange ich zu wissen.
»Gray«, beginnt sie und streckt die Hand nach mir aus, doch ich schlage sie weg.
»Nein, ernsthaft, Emma. Was hast du dir dabei gedacht? Warum bist du mir hierher gefolgt?« Jetzt bin ich mir beinahe sicher, dass das Geräusch, das ich vorhin im Unterholz gehört habe, von ihr verursacht worden ist, als sie mir nachging.
»Ich … ich wollte … Na schön, Gray! Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
»Genau das ist das Problem, Emma«, fauche ich zurück. »Es ist alles andere als schön, dich zu sehen. Was in aller Welt sollte schön daran sein? Ich habe hier eine Chance, aber dir wird es ergehen wie all den anderen. Soll ich mich etwa darüber freuen?«
»Noch bin ich nicht tot«, gibt sie zurück.
»Es hat uns auch noch nicht gefunden. Es wird passieren, was immer es ist, und ich kann nichts tun, um dich zu retten.« Am liebsten möchte ich ihr sagen, dass sie gehen soll, wieder über die Mauer in Sicherheit klettern, aber die Mauer ist so glatt, dass man sie von hier aus nicht ersteigen kann, und weil auf dieser Seite keine Bäume stehen, sitzt sie in der Falle.
»Vielleicht möchte ich ja gar nicht gerettet werden«, fährt Emma fort. »Vielleicht bin ich ja hier, weil ich ebenfalls um jeden Preis die Wahrheit erfahren will. Was du jetzt empfindest, diesen Drang, Antworten zu bekommen, kenne ich schon mein ganzes Leben lang. Warum ist dann dein Wunsch, die Wahrheit zu kennen, berechtigter als mein Anliegen?«
»Er ist berechtigter, weil ich tatsächlich eine Chance habe.«
»Das kann man aber so oder so sehen«, zischt sie.
»Ist mir egal!«, brülle ich. »Mich hat der Raub verschont. Ich weiß nicht, wie oder warum, aber vielleicht wird die gleiche Magie mich hier schützen. Du hast diese Chance nicht.«
Emma beißt sich auf die Lippen und sieht auf den Grasboden hinunter. Länger, als mir angenehm ist, herrscht Schweigen, und als sie erneut das Wort ergreift, klingt ihre Stimme leise. »Für mich gibt es dort nichts mehr, Gray. Die beiden Dinge, die ich will – Antworten und dich –, die befinden sich jetzt auf dieser Seite der Mauer.«
Ich höre, wie Emma das sagt, und weiß, dass ich sie ebenfalls will, aber auf eine gefährlichere Weise, auf eine Art, die ich mich immer zuzugeben gefürchtet habe, vielleicht sogar vor mir selbst.
Ich liebe sie, und Liebe ist für Paare in Claysoot ein zu großes Wort. Selten wird es ausgesprochen und wenn, dann ausschließlich zwischen Eltern und Kindern. So starke Gefühle gegenüber einer gleichaltrigen Person zu entwickeln, ist einfach nur töricht, der Raub zerstört alle Beziehungen, ganz gleich, wie tiefgehend sie sind. Unsere würde er jedoch nicht zerstören, nicht, wenn ich ihn besiegt habe. Aber diese Welt jenseits der Mauer; das, was allen zustößt, die sie übersteigen … das könnte es tun.
»Gray?« Emma wartet immer noch auf meine Antwort. Sie sieht so hübsch aus, obwohl ihre Haare durch die feuchte Luft zu Berge stehen. Ich kann nicht länger wütend auf sie sein. Nicht hier, nicht ohne jede Garantie, dass wir es beide schaffen werden. Ich möchte ihr die Wahrheit sagen, das Wort aussprechen, aber meine Zunge fühlt sich zu ungeschickt an.
»Es tut mir leid«, sage ich, »dass ich dich angeschrien habe.«
Sie nickt. Und dann küsse ich sie, weil das
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