Taken
einfacher ist, als Worte zu finden. Ihre Lippen schmecken nach Regen, und ich möchte sie näher bei mir haben, obwohl ich mir andererseits wünsche, sie wäre weit weg und sicher hinter der Mauer. Als wir uns schließlich voneinander lösen, lässt der Regen nach.
»Du musst mir versprechen, dass du von jetzt an auf mich hörst. Befolge jede Anweisung, die ich dir gebe, auch wenn sie in dem Moment merkwürdig klingt. Vertrau mir einfach, ja?«
Emma nickt wieder. »Versprochen.«
Wir trinken etwas Wasser, und dann gehe ich voran, durch die dichten Wälder und fort von dem Rauchgeruch, der immer noch in der Luft liegt. Ich habe das ungute Gefühl, dass es Emmas Ende sein wird, falls wir auf seine Quelle treffen.
Wir sind so spät in der Nacht aus Claysoot aufgebrochen, dass es nicht lange dauert, bis die Morgendämmerung durch das Blätterdach dringt. Wir blinzeln in das Licht und marschieren weiter, bis sich hinter den Bäumen freies Feld auftut. Die Fläche ist viel größer als die Lichtung in den Wäldern von Claysoot und völlig frei von Steinen oder Trampelpfaden. Sie wirkt beinahe einladend, und genau das macht mich misstrauisch.
Eine Brise weht über die Ebene, und wieder dringt der Rauchgeruch zu uns. Er ist dichter, durchdringender. Ich habe gedacht, wir würden uns von ihm wegbewegen, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
»Was ist das?«, flüstert Emma und zeigt über die Wiese.
Am anderen Ende, wo ein weiterer Waldsaum liegt, ist verschwommen ein Gebilde zu erkennen, ein Gebäude vielleicht. Die Härchen auf meinen Unterarmen stellen sich auf.
Antworten.
Vorsichtig gehen wir in die Wiese hinein. Ich übernehme die Führung und halte inne, wenn ich ein seltsames Geräusch höre oder ein ungutes Gefühl habe. Nach und nach können wir den Umriss besser erkennen.
Es handelt sich tatsächlich um ein Gebäude, ein schmales Haus, das offensichtlich schon lange verlassen ist. Das Dach ist an einigen Stellen schadhaft, und die Haustür schwingt im Wind hin und her. Aber dieses Gebäude strahlt etwas Eigenartiges aus. Sogar in seinem verfallenen Zustand ist es zu vollkommen. Man erkennt, dass alle Flächen einmal exakt im rechten Winkel ausgerichtet waren, die Fenster einheitlich sind und das Dach gerade. Ich denke an unsere Häuser in Claysoot, die zwar sorgfältig gebaut, aber trotzdem fehlerhaft und unvollkommen sind. Dieses Haus ist von äußerst geschickten Händen errichtet worden.
Oder seine Erbauer waren keine Menschen.
»Vielleicht sind dort ja Leute«, sagt Emma. »Komm. Lass uns nachsehen.«
Ich packe sie am Handgelenk und ziehe sie zu mir heran. Dass das Haus schon einige Zeit verlassen ist, sehe ich. »Ich finde, wir sollten einen Moment warten.« Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht mich, und plötzlich kommt es mir vor, als würden wir beobachtet.
»Ich habe immer gewusst, dass es hinter dieser Mauer noch mehr geben muss«, sagt Emma. »Du weißt doch, was das bedeutet, oder, Gray? Jemand war hier. Menschen! Gleich hinter Claysoot. Vielleicht sind sie von hier gekommen, die ersten Bewohner. Oder vielleicht waren die Erwachsenen hier, als der Sturm kam, und die Kinder saßen im Inneren der Mauer fest!«
Ich weiß nicht, was ich auf dieser Seite der Mauer zu finden erwartet habe – vielleicht ein gähnendes schwarzes Loch, durch das ich in alle Ewigkeit treiben würde –, aber dieses Haus verändert alles. Es gibt Leben jenseits von Claysoot, Leben und eine Welt, ganz genau wie innerhalb der Mauer.
»Komm schon, sehen wir uns das genauer an«, drängt Emma noch einmal.
Das möchte ich, unbedingt. Ich spüre, wie die Antworten in der Luft vor uns vibrieren. Sie strecken ihre Hände nach mir aus, streichen über meine Haut wie die Wärme eines kräftigen Feuers, aber sie können meine Zweifel nicht vertreiben. Ich spüre immer noch unsichtbare Augen auf uns ruhen und sehe mich auf dem Feld um. Beinahe hoffe ich, einen Verfolger zu entdecken, auf den ich schießen kann.
Aber wir sind allein.
Als ich nicht länger gegen den Wunsch, mehr zu erfahren, ankämpfen kann, erfülle ich Emma die Bitte, und wir gehen auf das Gebäude zu. Sobald wir drinnen sind, schiebe ich einen von mehreren rostigen Türriegeln vor und wir gehen auf Entdeckungsreise.
Der Boden in dem Haus ist bearbeitet, so wie in Maudes Haus in Claysoot, nur dass die Oberfläche nicht aus Holz besteht, sondern aus einem glatten Material, das ich noch nie gesehen habe. Trotz der Schicht aus Staub und Dreck, die
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