Taken
unteren Teil gleiten und zieht dann den oberen Teil der Waffe zurück. Er fischt etwas golden Schimmerndes aus der Pistole und reicht es mir.
Auf meiner Handfläche wirkt es klein, so winzig, dass ich mich frage, wie es den Dieb getötet hat. Aber es ist auch unglaublich schnell geflogen. Es kam aus der Waffe geschossen und hat sein Ziel so rasch getroffen, dass ich es nicht verfolgen konnte. Klein, aber mächtig. Schnell und tödlich. Im Vergleich dazu wirken mein Bogen und meine Pfeile lächerlich.
Ich lasse die Kugel von meiner Handfläche auf den Schreibtisch rollen. »Er hatte den Tod nicht verdient«, sage ich.
Frank lächelt freundlich, so wie meine Mutter früher, wenn Blaine oder ich unartig waren und sie uns ausschimpfen musste, obwohl sie eigentlich nicht wollte. »Manchmal müssen wir Dinge tun, die nicht vollständig angenehm sind.«
»Nein«, erkläre ich fest. »Das war nicht nötig. Seine Familie war krank. Er brauchte nur ein wenig zusätzliches Wasser.«
»Alle wollen mehr Wasser, Gray. Jeder Einzelne von ihnen. Und ich würde alles geben, um es ihnen zu beschaffen. Aber wir verfügen nur über begrenzte Mengen davon. Er hat genommen, was ihm nicht zustand, und krank oder nicht, er hatte kein Recht darauf, mehr Wasser zu bekommen als sein Nachbar. Das verstehst du doch sicher.«
»Aber er hatte nicht einmal Gelegenheit, sich zu verteidigen.«
»Er war schuldig«, sagt Frank.
»Aber was, wenn das nicht stimmt? Wenn diese Sache nicht so schwarz-weiß ist?«
»So ist es aber. Er ist mit dem Wasser weggelaufen, also wusste er, dass er etwas Falsches getan hat.« Frank beugt sich so über den Schreibtisch, dass sich sein Gesicht direkt vor meinem befindet. »Es war richtig, dass du ihn aufgehalten hast, Gray. Taem ist heute sicherer, weil du das getan hast.«
Ich nicke, aber in meinem Kopf höre ich immer noch die letzten Worte des Diebes, sein Betteln und Flehen. Ich habe das Gefühl, dass mir ein entscheidendes Stück dieses Puzzles fehlt. Mir ist, als betrachte ich die Situation aus einem falschen Blickwinkel, und wenn ich sie nur besser erkennen könnte, würde alles einen Sinn ergeben. Mit Sicherheit weiß ich nur, dass ich nicht Franks Meinung bin. Jede Geschichte hat zwei Seiten, so offensichtlich sie auch erscheinen mag, und der Dieb hatte keine Chance, seine Version zu erzählen.
Am liebsten möchte ich Frank das sagen, aber er ist so gut zu mir gewesen. Er hat mir Kleidung und Nahrung gegeben und versucht, die anderen in Claysoot zu befreien, und das alles, während er mit den Problemen seines Landes kämpft. Vielleicht ist es ja gerechtfertigt, dass er den Orden so schnell handeln lässt. Was weiß ich schon? Claysoot ist so klein, und hier ist alles so viel komplexer.
»Was du erlebt hast, ist nicht typisch, Gray«, versichert mir Frank. »So gehen wir nur mit Dieben und Verbrechern um. Den Korrupten.«
Ich nicke, aber etwas keimt tief in meinem Bauch auf, eine kleine Saat des Zweifels, eine Saat, die sich von etwas nährt, das der Dieb mir eingepflanzt hat. Was haben Sie schon für eine Ahnung … Sie führen die Befehle eines korrupten Mannes aus .
Ich entschuldige mich und gehe zur Tür. Doch bevor ich auf den Gang trete, ruft Frank mir noch etwas nach. »Und, Gray? Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber wir müssen während deiner Säuberung die Zugangscodes verwechselt haben. Die Tür nach draußen hätte sich nicht für dich öffnen dürfen. In Taem ist es oft unruhig, und für die Welt außerhalb der Kuppel gilt das erst recht. Ich kann deine Sicherheit nur gewährleisten, wenn du hier in Union Central bleibst. Sicher verstehst du, dass ich dich bitten muss, bis auf Weiteres nicht mehr herumzuspazieren.«
Noch gestern hätte ich seine Worte liebenswürdig gefunden. Heute klingen sie wie ein Befehl, eine Forderung.
»Selbstverständlich«, sage ich.
Aber als die Türen des Arbeitszimmers hinter mir mit einem Klicken zugleiten, gehe ich direkt zu Emma. Eine Saat ist in mir aufgegangen, und nur Emma wird wissen, ob ich sie ausreißen soll, bevor sie eine Chance hat, Wurzeln zu schlagen.
17. Kapitel
Als ich vor Emmas Zimmer ankomme, habe ich mich bereits entschieden. Meine Zweifel sind zu real. Um Frank für korrupt zu halten, muss der Dieb etwas gewusst haben, was ich nicht weiß. Und dann ist da noch das Gespräch, das ich vorher mitgehört habe, und der Umstand, dass Frank so besorgt darüber wirkte, dass ich dem Raub entkommen bin, obwohl die Vorstellung ihm
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