Taken
Die Wasserwand ist so dick, dass ich den Wald um mich herum nur noch verschwommen erkenne.
Ich frage mich, wie lange Blaine brauchen wird, um festzustellen, dass wir fort sind. Was Frank ihm wohl sagen wird? Emma und Gray sind in der Stadt in eine Schießerei geraten. Emma und Gray haben die Kuppel der Stadt verlassen und sind von Rebellen getötet worden. Emma und Gray sind weggelaufen. Lügen, Lügen und noch einmal Lügen. Ich muss zurück, um Emma zu holen, aber ich brauche auch Harvey, sonst wird Claysoot niemals frei sein. Die logische Schlussfolgerung ist, weiter zu den Rebellen zu gehen, aber ich habe keinen konkreten Plan und keine Strategie. Die ganze Welt ist durcheinander geraten, und das bereitet mir Kopfschmerzen.
Als es zu hageln beginnt, lasse ich das Trockenobst im Stich, das mein Abendessen bildet, krieche in meine sichere Hängematte und schlafe.
Es regnet die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen esse ich wieder von dem Obst. Ich denke ernsthaft darüber nach, ob ich jagen soll, aber ich weiß, dass das zu lange dauern würde, denn ich habe nur das Messer, und wenn ich eine Falle aufstelle, muss ich darauf warten, dass etwas hineinspaziert. Ich breche mein Lager ab, überprüfe die aufgehende Sonne und die Karte und gehe weiter nach Norden.
Ungefähr zwei Stunden später wandere ich an einer Steilwand entlang, unter der sich vielleicht hundert Meter tiefer der Wald fortsetzt. Von hier aus kann ich, wie es mir vorkommt, unendlich weit sehen. Baumkronen erstrecken sich endlos vor mir. Ich folge einem Pfad, der an dem Felsgrat entlangführt, bis er plötzlich so scharf nach links unten abbiegt, dass man die Stelle leicht ganz hätte übersehen können. Ich habe die »Haarnadel« erreicht.
Ich komme nur langsam voran. Die Erde unter meinen Füßen ist nach dem Regen von heute Nacht locker, und ich setze meine Füße vorsichtig. Am Fuß des Felssturzes, wo der Hang auf den Waldboden trifft, bemerke ich in der feuchten Erde einen Fußabdruck. Er ist gleich wie die Abdrücke, die meine eigenen Stiefel hinterlassen.
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Der Orden muss in der Nähe sein.
Den Rest des Tages sehe ich zu, dass ich im Schatten bleibe. Wenn möglich, gehe ich auf Kiefernnadeln. Ich mache viele Pausen. Doch bis spät an diesem Abend höre ich nichts als die Laute des Waldes: den Wind zwischen den Ästen und Vogelgezwitscher.
Es ist schon dunkel, und ich mache gerade meine Hängematte fest, als ich die Stimmen vernehme. Ich sollte bleiben, wo ich bin, in sicherer Entfernung, aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen, wem die Stimmen gehören und worüber ihre Besitzer sprechen. Daher packe ich meine Ausrüstung wieder zusammen und halte mit der Tasche über der Schulter lautlos auf die Sprecher zu.
Auf dieser Seite der Haarnadel ist die Landschaft felsiger und bietet viel Deckung. Ich husche zwischen Bäumen, Felsbrocken und wieder Bäumen dahin. Vor mir kann ich durch das Astwerk schwachen Feuerschein erkennen. Als ich mich vorsichtig nähere, wird mir klar, dass ich ein Lager vor mir habe. Ein Lager des Ordens. Die Männer sind ungefähr zwei Dutzend und sitzen um eine zentrale Feuergrube, die warmes Licht auf ihre Gesichter wirft. Manche wenden mir den Rücken zu, aber der Mann, der anscheinend die Verantwortung trägt, ist vollständig zu erkennen. Sein Haar ist so knapp über dem Kopf abrasiert, dass ich mich frage, ob er nicht vielleicht gar keines hat.
»Ich möchte, dass es vollkommen, absolut klar ist, was wir hier tun und wie wir es angehen werden«, erklärt er. »Operation Frettchen ist möglicherweise die kritischste Mission, die unserer Division je aufgetragen wurde. Wir dürfen diese Sache auf keinen Fall verbocken.«
Operation Frettchen: die Akte, die Emma und ich in Union Central gefunden haben. Das muss die Mission sein, die Frank geplant hat, seit er gehört hat, Harvey sei im Wald gesehen worden.
Der Mann legt eine dramatische Pause ein und lässt den Blick über seine Gruppe schweifen. Ich folge ihm und erkenne im Feuerschein Septum und Craw. Sie wirken nervös. Das muss ihre erste große Mission sein.
»Unser endgültiger Bestimmungsort ist Mount Martyr«, fährt der Mann fort. »Wir vermuten, dass sich dort, oder zumindest in einem der benachbarten Höhenzüge, nicht nur Maldoon selbst befindet, sondern auch sein Hauptquartier für die gesamte Rebellenbewegung. Unterschätzt diesen Mann nicht. Er ist skrupellos und weit gerissener, als es den Anschein hat. Unser
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