Taken
aber du hattest ein paar Tage später schon einen anderen.«
Hilflos steht sie da und hält die weiße Bettdecke vor ihrer Brust fest. Sie bedeckt Haut, die Craw schon gesehen hat, aber ich nicht. Sie sollte mir gehören und ich ihr. Wir wollten wie die Vögel sein. Mit dem Handrücken wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Es hat nie einen anderen gegeben, Gray«, sagt sie. »Körperlich vielleicht, weil ich einsam und bekümmert war, aber niemals wirklich. Bitte lauf nicht vor mir weg. Verlass mich nicht noch einmal.« Sie streckt die Hand nach mir aus, aber ich weiche zurück.
»Hat Craw dir wenigstens meine Nachricht überbracht?«
Sie schlägt die Augen zum Teppich nieder. »Ja.«
Während ich überlege, dass es dadurch noch schlimmer wird, knackt es in meinem Ohr.
»Bald«, flüstert Bree. »Mach dich bereit.«
»Ich muss gehen«, sage ich.
»Nicht«, bettelt Emma. »Es tut mir furchtbar leid, dass du mich so sehen musstest und dass ich das getan habe, aber bitte geh nicht.«
»Ich brauche Zeit.«
»Wozu?«
»Um zu entscheiden, ob du eine zweite Chance verdienst.«
Bei all diesen Gelegenheiten, bei denen ich etwas für Bree empfunden habe, jedes Mal, wenn ich auch nur ein leises Gefühl von aufkeimender Zuneigung spürte, habe ich es um Emmas willen verdrängt und mir gesagt, es sei nicht real. Ich habe nur an sie gedacht und versucht, zu ihr zurückzukehren, und sie hat mich fast sofort vergessen.
»Jeder verdient eine zweite Chance, Gray«, sagt sie. Immer noch rinnen ihr die Tränen übers Gesicht.
»Vielleicht«, sage ich und wende mich ab. Die Ablenkung steht kurz bevor, und ich muss bereit sein.
Ich gehe zurück zu dem Zimmer, in dem Harvey festgehalten wird und sehe zu, wie die Wachen davor auf und ab gehen. Ich fühle mich merkwürdig verletzlich und schwach nach meiner Begegnung mit Emma und ohnmächtig, weil man mir mein Gewehr abgenommen hat.
Plötzlich läuft ein lautes Krachen durch Union Central und ein statisches Pfeifen dringt aus allen Sprechanlagen. Brees Signal, mein Zeichen.
»Was war das?«, fragt einer der Wachmänner. Die anderen schütteln die Köpfe. Und dann beginnt es, leise zuerst, wie das Tröpfeln eines Abendregens. Es ist zart und behutsam, dann schwillt es an, die Klänge werden kräftiger und die Melodie lauter.
»Ist das … Musik?«
»Hört sich so an.«
»Ich habe keine Musik mehr gehört, seit ich ein Kind war. Sie ist wunderschön.«
Selbst ich staune ehrfürchtig. So etwas habe ich noch nie erlebt, es ist so viel kraftvoller als die paar Trommeln oder Flöten, die wir an den Lagerfeuern von Claysoot gespielt haben. Die Musik dringt in meine Seele ein und verschlägt mir den Atem. Die Zeit scheint stillzustehen. Die Musik strömt durch Union Central. Sie erfüllt die Gänge und dringt auf das Trainingsgelände draußen. Ich sehe aus dem Fenster hinter mir und stelle fest, dass alle wie erstarrt dastehen und in den Himmel schauen, weil sie dort die Quelle der Musik vermuten.
»Sie spielt überall. Sogar draußen«, sagt einer der Wächter.
»Frank wird vor Wut außer sich sein«, meint ein anderer, und noch während er spricht, wird das interne Alarmsystem ausgelöst. Rote Lichter blitzen. Sirenen heulen. Sie klingen genau wie während des Angriffs von AmWest, damals auf dem Dach.
Doch jetzt meldet sich eine Stimme, die in allen Gängen zu hören ist. »Alarmstufe Rot. Vollständige Abriegelung«, erklärt sie ohne einen Hauch von Emotion. »Ordensmitglieder zum Dienst melden. Alarmstufe Rot. Vollständige Abriegelung.« Die Stimme ertönt weiter, zusammen mit dem gellenden Alarm, aber beide können die Musik nicht ganz übertönen.
Ordensmitglieder strömen durch die Gänge, rennen nach rechts und links und laufen durcheinander. Harveys Wachen lassen ihre Posten im Stich. Als sie an mir vorbeirennen, stelle ich einem ein Bein. Ich schnappe mir seine Handwaffe und schlage sie ihm über den Kopf. Er sackt zu Boden, aber die anderen, die sich von dem panischen Strom davontragen lassen, bemerken nicht einmal, dass ihr Kamerad gestürzt ist. Ich zerre den bewusstlosen Wachposten zu Harveys Zimmer und öffne mit Hilfe seines Handgelenks die Tür.
Harvey steht vor mir und sieht unglaublich viel besser aus, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Seine Nase ist noch angeschwollen, aber die Ärzte haben seine Schulter eingerenkt und ihm ein sauberes Hemd gegeben. »Mozart«, ruft er aus. »Diese Ouvertüre habe ich früher bei der Arbeit im Labor immer
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