Tal der Tausend Nebel
wildes Tier verwandeln kann …« Er zögerte einen Moment, bevor er seine weiteren Worte sorgfältig wählte. Sie waren vor allem an Elisa gerichtet. »Sie sind eben nicht wie wir, diese … Wilden. Sie lernen zwar durch unsere Missionare zunehmend mehr christliche Werte, aber ich habe sogar gehört, dass einige von ihnen bis vor Kurzem noch Menschenfleisch aßen. Wenn alle Kanaka sich auf den hawaiischen Inseln zusammentun und sich gegen die Weißen auflehnen, bleibt von uns noch nicht einmal ein Häufchen Asche über.«
Elisa wagte ein Widerwort. »Jedes Volk würde aufbegehren, wenn man es derartig demütigt. Die Lage Hawaiis ist durch den bewaffneten Arrest ihrer Königin mehr als angespannt. Aber das müssten doch auch Sie verstehen können. Die Amerikaner haben ihre Königin gefangen genommen. Ich meine, was würden Sie denn sagen, wenn so etwas bei uns in Deutschland geschehen würde? Meinen Sie nicht, dass wir uns zur Wehr setzen würden?«
Der Kapitän musterte Elisa mit mildem Lächeln. Auch wenn diese junge Frau wunderschöne Augen hatte, war sie ihm von Anfang an viel zu vorlaut gewesen. Frauen sollten sich ihre hübschen Köpfe grundsätzlich nicht über Politik zerbrechen, so seine Meinung. Er verbeugte sich wohlerzogen, aber mit ironischem Lächeln. »Ich weiß, dass Sie viel Mitgefühl mit den hiesigen Kanaka haben, Fräulein Vogel. Ihr weiches Frauenherz ehrt Sie. Aber hüten Sie sich vor zu viel jugendlichem Idealismus. Wenn sich diese Wilden erst berauscht in Rage geredet haben, sind sie zu allem fähig. Haben Sie schon einmal gesehen, was die mit ihresgleichen anstellen, wenn sie sich in die Haare kriegen? Sie gehen mit Zähnen aufeinander los, bis weder eine Nase noch ein Auge im Gesicht ihres Gegners übrig ist. Stellen Sie sich nur einmal vor, was die Arbeiter auf der Plantage mit der Familie Ihres Onkels anstellen würden …«
Der Kapitän überließ den Rest der unerfreulichen Vorstellungen Elisas Phantasie. Als er von der Brücke aus gerufen wurde, nickte er Mutter und Tochter abschließend zu.
»Sie entscheiden natürlich letztendlich, was Ihre eigene Sicherheit betrifft. Aber wenn Sie auf Kauai bleiben wollen, dann müssten Sie in einer Stunde mit Ihrem Gepäck von Bord sein. Wäre das möglich, meine Damen?«
Das zittrige Ja, das Elisas Mutter hauchte, war kaum zu hören. Allein der Gedanke, im Dunkeln das Schiff zu verlassen, versetzte ihre angegriffenen Nerven gefährlich in Schwingung. Aber Clementia ließ trotz ihrer Ängste verlauten, dass sie noch an diesem Abend an Land gehen würden. Der Kapitän drückte ihr ermutigend die Hand.
»Gut. Wenn Sie es so entscheiden, dann werde ich alles Nötige an Bord veranlassen. Bitte haben Sie Vertrauen, verehrte Frau Vogel. Ihr Schwager hat sicherlich seine fähigsten Männer geschickt, um sicheres Geleit zu gewähren. Wir sehen uns dann in einer Stunde.«
Elisa sah zu, wie der Kapitän nach einer knappen Verbeugung beschwingt zurück zu seinem Steuermann auf die Kommandobrücke ging. Irgendwie konnte sie sich der Vorstellung nicht erwehren, dass der Mann soeben eine unliebsame Last losgeworden war. Natürlich war es ihm lieber, dass sie heute noch von Bord gingen. Die Bremen III war als Frachtschiff nur ungenügend für den Transport von Passagieren vorbereitet. Quartiere für den Transport von Sklaven gab es unter Deck zur Genüge, aber für Elisa und ihre Mutter hatte der Kapitän seine eigene komfortable Kajüte räumen müssen. Das hatte mit den guten Beziehungen zu tun, die Elisas Vater in Hamburg aufgebaut hatte, bevor er seine eigene Reederei, die Reederei Vogel, durch einen schändlichen Bankrott verlor. Alles was von ihrem einst großen Vermögen noch geblieben war, war diese Zuckerrohrplantage auf Kauai. Auch deswegen mussten sie von Bord. Elisa und ihre Mutter hatten kaum noch Barmittel zur Verfügung. Sie konnten gar nicht umkehren.
Kurz darauf packten sie in der Kapitänskajüte ihre letzten Sachen zusammen. Das Meiste war seit Tagen in ihren beiden Reisetruhen vorbereitet. Weiteres Hab und Gut aus der Hamburger Heimat war im Schiffsrumpf verstaut. Sie mussten sich jetzt nur noch frisch machen und umziehen. Die Kleidung, die sie tragen würden, um bei der Begrüßung der Verwandtschaft angemessen auszusehen, hatte ihre Mutter schon seit Tagen ausgewählt. Elisas dunkelblaues Seidenkleid, das sie bei offiziellen Anlässen trug, begutachtete sie ein letztes Mal. Mit einem Monokel, das der Vergrößerung diente, suchte sie
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