Tal der Tausend Nebel
Attraktion auch für die kleinen Dörfer im Hinterland.
In dem spärlich beleuchteten Betontreppenhaus eilte sie so schnell wie möglich die vier Stockwerke hinunter. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Auch hier stank es ekelerregend. Männerpisse war ein Zeichen für die ständig zunehmende Zahl der Obdachlosen, die seit der Wirtschaftskrise im Spätsommer die Côte d’Azur zu ihrem neuen Hauptquartier machten.
Sie hörte ein kehliges Männerlachen, dann kurz darauf noch weitere Stimmen. Es mussten mehrere sein, vielleicht drei oder vier. Aber waren die Männer unter ihr? Durch den Hall waren die Stimmen schwer zu lokalisieren. Angespannt hielt sie den Atem an. Mehrmals schon hatte Maja in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen in diesem Parkhaus gemacht, doch nie zuvor war sie zu so später Stunde allein hier gewesen. Daher war es in der Vergangenheit maximal bei einem unangenehmen Wortwechsel geblieben. Sie hoffte inständig, dass nicht irgendwelche üblen Typen ausgerechnet in der untersten Etage herumhingen, wo ihr Auto stand. Allein wäre sie ihnen ausgeliefert.
Unsicher blieb sie einen Moment auf dem letzten Absatz stehen. Hier stank es bestialisch. Vor ihr breitete sich eine verräterische Pfütze aus. Maja verzog das Gesicht. Es grauste ihr jetzt schon vor einer möglichen Begegnung. Aber was sollte sie tun? Ihr Münchner BMW stand dort unten. Ihr Vater hatte ihr seinen alten Wagen vor drei Jahren geschenkt, und Maja hing sehr daran. Zwar konnte sie heute Nacht auch ohne ihr Auto zurück in die Villa nach Antibes, aber die Taxifahrt würde sie wahrscheinlich fast hundert Euro kosten. Schade ums Geld, auch weil sie morgen dann hierher zurückkommen musste. Allerdings konnte sie tagsüber gut den Bus nehmen. Aber eigentlich hatte sie vor, den Morgen entspannt am Pool zu verbringen, bevor sie Stefan am frühen Abend vom Flughafen abholen würde. Außerdem widerstrebte es ihr zutiefst, ihren Ängsten nachzugeben. Also holte sie tief Luft und schob ihre Schultern zusammen, um größer zu wirken als sie tatsächlich war. Dann stieg sie über die stinkende Lache.
Später würde sie sich daran erinnern, dass das einer der Momente in ihrem Leben war, in dem in ihr sämtliche Alarmglocken geläutet hatten, sie aber nicht auf ihre innere Stimme hatte hören wollen.
Der Mann ließ erneut sein kehliges Lachen hören. Jetzt stimmte auch ein zweiter mit ein. Maja hörte Glas splittern. Mit ein wenig Glück waren diese Männer weiter oben, redete sie sich ein, während sie die letzte Etage hinabstieg. Die Geräusche mussten von weiter oben kommen, aus der dritten Etage, wo die Pisslache war. Die Männer würden Maja noch nicht einmal bemerken. Sie würde einfach auf Zehenspitzen gehen, bis sie ihren Wagen aufgesperrt hatte, um nicht bemerkt zu werden. Ihre Absätze waren laut, aber ihre Schuhe würde sie notfalls ausziehen können.
Ihr Hirn lief auf Hochtouren, denn sie fühlte eine Gefahr. Aber noch suchte sie nach einer Lösung, denn sie hasste es, sich ihren Ängsten ausgeliefert zu fühlen. Also legte sie sich einen Plan zurecht.
Vorsichtig würde Maja zuerst die Stahltüre einen Spalt weit öffnen, um zu sehen, ob überhaupt jemand auf ihrer Etage der Parkgarage war. Sollten die Typen allerdings in der Nähe ihres Wagens abhängen, würde sie auf der Stelle umkehren. Sie würde sich ein Taxi nehmen, die hundert Euro ausgeben und morgen mit dem Bus nach Nizza fahren, um ihren Wagen zu holen.
Einen Moment lang horchte sie. Jetzt war alles ruhig. Hatten die Stimmen zu Leuten gehört, die längst weggefahren waren? Dann hätte sie aber den Motor ihres Wagens hören müssen. Und wenn diese Männer zu Fuß die Parkgarage verlassen wollten, mussten sie an ihr vorbei. Spät in der Nacht war unter dem Justizpalast lediglich dieser eine Eingang offen, das wusste sie.
Lautlos schlich Maja jetzt die restlichen Stufen nach unten, und die allerletzten Stufen ging sie auf Zehenspitzen. Bloß kein unnötiges Geräusch machen. Ihr Atem ging flach. Ihre Ohren waren auf jedes noch so kleine Geräusch geeicht. Das Adrenalin in ihren Adern pumpte kribbelnde Nadelstiche in ihre Fingerspitzen. Wie sie es hasste, Angst zu haben.
Ihr ganzes Leben hatte sie sich vor Gewalt gefürchtet. Selbst in einer friedlichen Stadt wie München hatten ihre Eltern ihr von klein auf beigebracht, immer auf ihre Sicherheit zu achten. Damit die lauten Ledersohlen ihrer Sandalen sie nicht verraten würden, zog sie leise ihre Schuhe aus. Sie verzog das
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