Tal der Tausend Nebel
letzten Abend, als der Dozent einen gemeinsamen Ausflug in die Altstadt vorschlug, mieden sie sich. Und auch die Nächte, die Maja danach immer allein in der Villa verbrachte, um sich für die Abschlussprüfung am letzten Tag vorzubereiten, waren ohne Überraschungen. Elisa kam im Traum nicht ein einziges Mal zu ihr.
Die Prüfung zum Abschluss der Seminarwoche war nicht allzu schwer gewesen. Maja war sicher, dass sie eine gute Bewertung bekommen würde. Zusammen mit einigen anderen Teilnehmern, die zum ersten Mal dabei waren, fühlte sie sich fast ein wenig ausgelassen. Alle freuten sie sich auf den gemeinsamen Ausflug in die Gassen der Altstadt.
Beim Abendessen an den langen Holztischen saßen Keanu und Maja zufällig nebeneinander, da ein Pärchen zusammensitzen wollte. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte Maja ihn bereits ganz und gar abgeschrieben. Ihr war in den letzten Tagen nicht entgangen, dass der gut aussehende Hawaiianer von sämtlichen Singlefrauen im Seminar angeschmachtet wurde. Sicher ging er mit jeder von ihnen ins nächtliche Meer. Davon war Maja inzwischen überzeugt. Sie war wütend auf sich selber, weil sie auf seine Masche reingefallen war. Es war auch ganz allein ihre Schuld, dass es ihr seit ihrer nächtlichen Begegnung mit ihm schlecht ging.
Aber Ina hatte recht gehabt. Sie hatte sich ernsthaft in ihn verliebt. Ihre Phantasie ging seitdem mit ihr durch, und nicht eine Nacht war ohne diese heiße Unruhe geblieben, die sie seit ihrer Begegnung quälte. Zwar war es nicht mehr Elisa Vogel gewesen, die erschien, aber Maja hatte wiederholt von Haien geträumt. Im Wasser wurde sie gejagt und gefressen. Sie wachte jedes Mal schweißgebadet auf.
Täglich konferierte sie jetzt mit Ina, die ihr von Ferne mit Rat zur Seite stand. Homöopathische Kügelchen hatte Maja bereits in einigen verschiedenen Varianten ausprobiert, doch sie halfen ihr auch nicht durchzuschlafen. Jetzt waren Baldriantropfen dran, denn es war jede Nacht die gleiche Misere: Zwischen Drei und Vier wachte sie nach einem Albtraum in der Teufelsstunde auf und grübelte. Immer dachte sie dann an Keanu.
Einmal hatte sie versucht, sich selber zu streicheln. Sie wollte das Gefühl heraufbeschwören, das sie im Meer mit ihm gehabt hatte. Aber es gelang ihr nicht. Mittendrin hatte sie sich zu schuldig wegen Stefan gefühlt. Ihr Freund wurde in München mit jedem Tag besorgter und hatte ihr schließlich angeboten, am Freitag nach Nizza zu kommen. Nach Seminarschluss könnten sie so noch ein gemeinsames romantisches Wochenende verbringen. Dankbar hatte sie sein Angebot angenommen. Nach einer Woche miserablem Schlaf wollte sie die achthundert Autokilometer bis nach München nur ungern allein zurücklegen.
»Kommst du heute zum Abschied noch einmal mit mir ans Meer?«
Keanus geflüsterte Frage traf sie völlig unerwartet. Aber sein trauriger Blick war der eines Bittstellers und passte gar nicht zu seinem Image als Don Juan. Unsicher fragte sie zurück: »Ist das eine gute Idee?«
»Nein, sicher nicht. Du hast einen Freund …«
»Und du eine Freundin! Und ziemlich viele Verehrerinnen hier …«
Sie schwiegen beide. Maja biss sich auf die Lippen. Warum hatte sie das gesagt? Sie wollte doch noch einmal mit ihm ans Meer. Seit ihrer ersten Begegnung wollte sie nichts anderes. Noch einmal seine Hände auf ihrem Körper spüren, ein letztes Mal, dann würde sie ihn auch vergessen können. Sie könnte danach innerlich wieder ganz für Stefan da sein, zumindest hoffte sie das. Sie wollte Keanu zusagen, aber ihr fehlte die Gelegenheit. Er unterhielt sich bereits mit seiner Nachbarin zur Linken. Der Moment war verpasst.
Dann war es Zeit zu gehen. Minutenlang gab es wortreiche Abschiede zwischen Studenten, Lehrern und Referendaren aus aller Welt. Die meisten von ihnen würden sich nie wiedersehen. Ihr Seminarleiter sprach bewegende Sätze über visionäre internationale Bildungskonzepte, die alle Teilnehmer in ihre Länder zurückbringen würden. Ein vielfaches Händeschütteln, Küsschen rechts und links und das eine oder andere Versprechen. Man würde sich schreiben. E -Mail, Skype, Facebook. Man würde sich wiedersehen. Würde man das? Unsicher blickte Maja gelegentlich zu Keanu hinüber. Gerade wurde er von der schwangeren Dänin zum Abschied herzlich auf beide Wangen geküsst. Er schien Maja vergessen zu haben. War ihm überhaupt wichtig, was er sie gerade gefragt hatte? War es wirklich sein Wunsch, noch einmal mit ihr ans Meer zu gehen?
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