Tal der Tausend Nebel
Wahrscheinlich gab es zehn Frauen, mit denen er noch einmal in die Wellen wollte.
Unruhig stand Maja auf. Sie musste hier weg und würde einfach allein noch einmal zu der Stelle gehen, an der sie zusammen ihre Kleider ausgezogen hatten. Sie würde dort Abschied nehmen von einer Illusion. Ihre verdammte Romantik, für die sie sich inzwischen nur noch schämte, würde sie in eine der Abfalltonnen am Strand entsorgen. Einzigartig hatte sie sich mit Keanu gefühlt. Schön war sie unter der Berührung seiner Hände im Wasser geworden. Jede Faser ihres Körpers war mit ihm eine Frau, vielleicht eine Haifischfrau, vielleicht auch einfach nur endlich wirklich lebendig, denn nie hatte sie sich so mit Stefan gefühlt. Wahrscheinlich würde sie sich mit ihm auch nie so fühlen. Und vielleicht war das gut so. Albträume waren kein nettes Geschenk. Auch das schmerzhafte Herzklopfen, das sie bei Keanus Anblick überfiel, konnte auf Dauer nicht gesund sein. Unbemerkt von ihm nahm sie ihre Jacke und ging.
Am nächtlichen Meer warf Maja missmutig Steine ins Wasser. Heute waren keine Angler da. Der Mond hatte sich hinter dicken Wolken verzogen. Kaum ein Stern zeigte sich. Der verführerische Mistral war zu einem jämmerlichen Lüftchen geworden. Alles roch nach fader Nachsaison. Der Sommer war zu Ende. Das Wasser lag träge und schwer wie Öl in der Dunkelheit. Ein unguter Geruch hing über der Bucht.
»Kloaken-Parfüm«, murmelte Maja vor sich hin und schleuderte wütend einen weiteren Kiesel. Sie musste an ihren Vater denken, der ihr vor vielen Jahren an der Côte d’Azur das Schwimmen beigebracht hatte. Sie hatte Sehnsucht nach seinen hawaiischen Augen, die denen von Keanu ähnelten. Aber ihr Vater war lang nicht so höflich wie der Mann aus Kauai. Nie nahm er diplomatisch ein Blatt vor den Mund, wie es in der heutigen Zeit der aalglatten Lügner von einem Rechtsbeistand erwartet wurde. Die Diplomatie der glatten Worte hatte Majas Vater nie besonders interessiert. Sein zukünftiger Schwiegersohn Stefan mochte sich zwar in Zukunft langsam und stetig zu einem erfolgreichen Kardiologen mausern, aber für ihren Vater würde er immer ein facettenloser Schmalspurschwätzer bleiben.
Maja musste unwillkürlich lächeln, als sie einen weiteren Stein aufklatschen ließ. Sie liebte ihren Vater sehr. Ehrlichkeit, auch wenn sie unbequem war, war das Schönste und Wertvollste zwischen Himmel und Erde, so hatte er seine drei Kinder erzogen.
Über Majas Nase bildete sich jetzt eine steile Unmutsfalte. Ehrlich gesagt war sie stinksauer auf diesen Hawaiianer Keanu, der sich in ihre Träume geschlichen hatte. Ein mieser Trick war es gewesen, sie bei Vollmond ins Meer zu locken und derart mit ihren Gefühlen zu spielen. Er hatte sich mit seinen Berührungen in ihr Herz geschlichen. Aber war es wirklich ihr Herz? War es nicht vielmehr eine völlig unkontrollierbare Begierde, die von ihr Besitz ergriffen hatte? Sie wollte diesen Mann im Bett haben, wenn sie ehrlich war. Das war zwar schamlos, aber auch harmlos, wie Ina zu Recht sagte. Es war gut, dass sie ihn nicht wiedersehen würde, denn sie waren beide bereits verlobt.
War es wirklich ein letztes Aufbäumen? Hatte Maja tief in ihrem Innersten wirklich solche Angst vor einer Ehe mit Stefan? Aber sie war doch alt genug! Sie wollte im Grunde ihres Herzens gerne eine Familie gründen. Es war reiner Zufall, dass sie noch nicht von Stefan schwanger geworden war. Sie hatten es zwar nie darauf angelegt, aber vor einem halben Jahr hatte sie die Pille abgesetzt. Sie lächelte bei der Erinnerung an Stefans Siegergrinsen, als er die Schachtel mit den Tabletten fröhlich im Bad in den Papierkorb warf. Er wünschte sich eine schwangere Braut. Das hatte er ihr zugeflüstert, bevor er sie hochhob und in seinen Armen ins Schlafzimmer trug. Es war eins der schönsten Liebeserlebnisse mit ihm gewesen. An ein Vergissmeinnicht hatten Stefans Augen sie in diesem Moment erinnert. Er würde ihr in der Schwangerschaft treu sein, das wusste sie. Er würde sie liebevoll umsorgen und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen.
Majas Lächeln wurde weicher, als sie jetzt an ihren Freund dachte. Stefan, der ihr sonst jedes einzelne Gramm auf der Waage vorrechnete, konnte sich nichts Schöneres vorstellen als eine schwangere Maja, die ihn mitten in der Nacht an die Tankstelle schicken würde, um ihr ein Glas saure Gurken zu holen. Sie hatten in ihrem Babywahn Luftschlösser gebaut. Was ihre Freundinnen wohl sagen würden,
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