Tal der Tausend Nebel
dem kalten Wasser bei Fackelschein wusch und dabei um sie weinte. Johannes hätte sie auch lieben können, dachte sie und lächelte inmitten ihres Schmerzes und ihrer Verzweiflung. Und auf bestimmte Weise würden sie für immer miteinander verbunden sein, wenn sie Bruder und Schwester heirateten. Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie sich ihm in diesem Moment hätte zeigen können, aber ihre innere Stimme hielt sie zurück. Durch seine Liebe zu Leilani würde Johannes von nun an für Männer wie Janson leichte Beute sein.
Nachdem die Männer gegangen waren, wartete Elisa eine Weile. Noch weiter hinten in der Höhle hatte sie inzwischen die Stelle gefunden, an der das warme Wasser aus dem Felsen trat. Sie ließ sich auf dem Rücken treiben und sah empor zur Höhlendecke. Ein kleiner Spalt ließ jetzt das Mondlicht herein. Nun war sie offiziell gestorben. Selbst wenn man am nächsten Tag ihre Leiche nicht finden würde, war die heutige Nacht die Nacht ihrer Wiedergeburt. Ein Teil ihrer selbst war für immer gestorben. Etwas war zerbrochen, denn nie wieder würde ihr Körper ganz ihr eigener sein. Es graute ihr selbst im Wasser davor, den Schaden genauer zu untersuchen. Aber sie konnte fühlen, dass langsam mehr Leben in ihre Beine zurückkehrte, vielleicht genug, um damit erste Schritte in ihrem neuen Leben zu machen.
10. Kapitel
Die Flucht, 1894
Sobald die Männer in der Kutsche fortgefahren waren, schwamm Elisa durch die Grotte zurück ans Ufer. Dort war das Wasser merklich kühler. Ihre Beine und Füße waren taub, als sie über die Steine zurück auf den schmalen Pfad kletterte, der aus der Höhle führte. Sie hoffte, dass die Wasserspur, die ihre Haare und der Unterrock hinter ihr auf den Steinen bildeten, getrocknet sein würde, wenn der Suchtrupp am Morgen kam. Wohl würden sie auch keine Hunde mit hierher bringen, dachte sie.
Van Ween hielt auf der Plantage einen Bluthund, der für das Aufspüren von geflohenen Arbeitern abgerichtet war. Immer wieder gab es Diebstähle aus den Lagerhäusern. Wurde der Täter oder die Täterin überführt, versuchten sie oft noch in die Berge zu fliehen, um nicht in Lihue in das Gefängnis für die Einheimischen zu müssen. Dort erwarteten sie oft drakonische Strafen oder gar der Tod. Doch van Weens Hund hatte eine gute Nase. Die meisten von ihnen wurden gefangen und öffentlich gerichtet, um weitere Täter abzuschrecken.
An einem scharfkantigen Stein hatte Elisa sich den Zeh blutig geschlagen. Sicher würde sie Spuren in der Höhle hinterlassen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Onkel sie vielleicht gar nicht lebend finden wollte. Ihre Liebe zu Kelii machte sie ohnehin zu einem Schandfleck für die Weißen auf der Insel. Man würde sie vergessen wollen. Sobald das Absuchen des Höhlensees ohne Ergebnis blieb, würde man ihr Begräbnis beschließen, notfalls auch gegen den Wunsch ihrer Mutter, da war Elisa sich inzwischen sicher. Ihre Stellung auf der Plantage war weit entfernt von dem, was ihr Vater sich einst erträumt hatte.
Elisa war am Höhleneingang angekommen. Ihr Atem ging schwer, obwohl die Steigung nur minimal war, denn jeder Schritt fiel ihr unendlich schwer. Es war, als wäre Blei in ihre Gliedmaßen gegossen. Sie spürte überwältigende Müdigkeit. Noch einmal sah sie zurück in die düstere Grotte und prägte sich den Anblick dieses Ortes für immer ein. Der See war jetzt dunkler als bei ihrer Ankunft. Der Mond schien nicht mehr durch das Loch in den Felsen, sodass sich das dunkle Wasser kaum mehr vom Stein abhob. Sie glaubte, sich daran zu erinnern, wie der alte Fried einmal über die Ausmaße des Sees in der Grotte gesprochen hatte. Unter dem Berg eingeschlossen lag angeblich der weitaus größere Teil dieses Wasserbeckens. Durch einen Tunnel, der einen Meter unter der Oberfläche lag, konnte man in eine zweite Grotte gelangen. Vielleicht würde man das als Erklärung für die Unauffindbarkeit ihrer Leiche akzeptieren, zumindest hoffte Elisa das inständig, während sie den Abstieg zur Straße begann. Wenn sie nur nicht so müde wäre. Am liebsten würde sie sich irgendwo auf die Erde legen und für immer schlafen. Doch der Funke Lebenswille in ihrem Inneren hinderte sie daran, dem Drang nachzugeben. Bis zum Morgengrauen musste sie es schaffen, zu der Abzweigung zu kommen, die hinauf zum Wasserfall führte. Das mussten zwischen sechs und sieben Kilometer sein, schätzte sie und setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen.
Kurz darauf war sie auf der
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