Tal der Tausend Nebel
einzigen Straße, die zurück nach Hanalei Bay und damit auch zur Vogel-Plantage führte. Wollte sie sich nicht barfuß durch das dschungelartige Dickicht quälen, war dies ihre einzige Möglichkeit. Aber das Laufen tat weh. Immer wieder dachte sie daran, aufzugeben und einfach am Straßenrand zu warten, bis die Männer zurückkamen. Sie könnte behaupten, sie hätte im See ihr Gedächtnis verloren. Damit hätte Gerit Janson die Absolution für seine Tat. Aber was würde mit ihr geschehen? Ohnehin durch den Hai beschädigt, wie Janson ihr noch einmal brutal verdeutlicht hatte, wäre sie von nun an sein Opfer. Was heute Nacht geschehen war, könnte jederzeit wieder passieren, egal ob Elisa schließlich in eine Ehe mit Janson einwilligte oder nicht. Er wusste von ihr und Kelii. Er würde sie für immer dafür verachten, wenn nicht sogar hassen.
Dennoch zitterte Elisa innerlich bei dem Gedanken daran, was die Nachricht ihres Todes für ihre Mutter bedeuten würde. Für Clementia gab es nur noch Elisa. Ihre Mutter lebte für sie. Zwar hatten ihre Worte und ihr flehender Blick beim Abendessen signalisiert, wie gern sie es sehen würde, wenn Elisa sich Janson annähern würde, aber damit meinte sie nichts Böses. Eine Ehe mit Gerit Janson bedeutete auch für ihre Mutter den äußerst erstrebenswerten gesellschaftlichen Aufstieg. Welche Mutter hätte so eine lukrative Partie wie Janson nicht für ihre Tochter gewollt?
Elisa strauchelte. Fast wäre sie in der Dunkelheit über einen Ast gefallen, der aus dem Dickicht ragte. Gespenstisch still war es zu der nächtlichen Stunde. Sie schätzte die Zeit auf ungefähr drei Uhr morgens. Kein Vogel sang, nicht einmal eine Grille zirpte. Nur das Meer rauschte leise unter ihr an den Klippen. Wenn Elisa ihren Atem anhielt, glaubte sie, einzelne Wellen zu unterscheiden. Unwirklich ragten Palmen am Straßenrand in den nächtlichen Himmel, viele von ihnen hatten in diesem Jahr nur spärliche Wedel. An Hände musste Elisa denken, die Gott verzweifelt um Hilfe anflehten.
Sollte ihr die Flucht gelingen, würde auch Elisa Gott ihre Hände entgegenstrecken, aber es geschähe aus Dankbarkeit. Endlich könnte sie frei leben.
Wieder gingen ihre Gedanken zurück zu ihrer Mutter. Sicher hatte ihre Mutter nicht mit einem derartigen Gewaltakt gegen Elisa gerechnet, als sie ihr zu dem Ausflug riet. Oder aber doch? Es gab so viel, was Elisa nicht wusste oder nur durch ihr geheimes Studium der Bücher in der Bibliothek ihres Onkels ahnte.
Ihre wundervolle Erfahrung mit Kelii am Wasserfall schien ihr in diesem Moment weit weg zu sein. Vielleicht waren seine zärtlichen Berührungen, die darauf ausgerichtet waren, Lust zu bereiten, lediglich eine unnatürliche Ausnahme bei einem Mann. Ihre Mutter hatte ihr immer nur von dem Leid der Frauen erzählt, das schon in der Bibel verankert sei. Unter Schmerzen sollten die Frauen gebären, hieß es dort. Die Mutter hatte immer wieder erwähnt, wie schwierig und vor allem auch gefährlich das Gebären sein konnte. Aber es sei auch die heilige Pflicht jeder Ehefrau, ihrem Mann zu Willen zu sein und ihm so viele Kinder wie möglich zu schenken.
Aber wenn dieser Akt bei den Weißen für eine Frau immer grauenerregend war, warum wollte Leilani dann für immer mit Johannes zusammen sein? Er war ein Weißer, und die beiden liebten sich von Herzen. Sie machten sich gegenseitig glücklich. Johannes hatte es ihr selber gesagt. Vieles zwischen Mann und Frau ergab für Elisa gar keinen Sinn.
Während ihre Füße wie von selbst voranschritten, versuchte sie zu erfassen, was genau ihr angetan worden war und vor allem: warum. Es schien ihr im Nachhinein, als hätte Janson alles minutiös im Vorfeld geplant, vielleicht sogar mit ihrem Onkel. Auch Johannes war in irgendeiner Form eingeweiht gewesen, auch wenn er vielleicht keine Details wusste. Es war eine Gewalt, die Männer den Frauen einfach antaten, weil sie es durften. Sie waren Männer und bestimmten über Frauen und Kinder, zumindest bei den Weißen.
Auch in Hamburg war es gewissermaßen so gewesen, obwohl das Züchtigen und die häusliche Gewalt eher in der Arbeiterschicht zu finden waren. Weiter oben in der Gesellschaft gab man sich zumindest den Anschein, seiner Gattin freiwillig gewisse Rechte einzuräumen. Sie herrschte über Haus und Kinder, er über das Geschäft.
Bei den Hawaiianern hingegen war es völlig anders. Es war zwar vieles getrennt zwischen Männern und Frauen, aber die Männer herrschten nie
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